Georgien: Eine demokratische Insel in autoritärer Nachbarschaft

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Eine Plakatwand feiert die "Rosen Revolution" nahe Platz der Freiheit, Tbilissi, Georgien

2012 erlebte Georgien bei Parlamentswahlen den ersten geordneten und friedlichen Machtwechsel seiner Geschichte. Nun, vier Jahre später, stellen sich die Parteien erneut zur Abstimmung. Der Ausgang ist offener denn je. Vertreter der Zivilgesellschaft Georgiens beschreiben die politische Landschaft einerseits als stark polarisiert zwischen zwei Parteien. Andererseits aber hoben sie bei einer Podiumsdiskussion am 27. September 2016  in der Heinrich-Böll-Stiftung hervor, wie stark sich die Gesellschaft inzwischen entwickelt habe. Dies mache Georgien zu einem besseren Ort als seine Nachbarstaaten.

Knapp zwei Wochen vor der Parlamentswahl am 8. Oktober in Georgien kam Unruhe auf im ansonsten relativ ruhig verlaufenden Wahlkampf: Im Internet tauchte ein Video auf, in dem offenbar die Stimme von Ex-Präsident Mikheil Saakashvili zu hören ist. Mit den Mitstreitern seiner Partei UNM spricht er über einen gewaltsamen Umsturz, sollte die Wahl verloren gehen.

Zwar heizte das Video erneut die Diskussion über illegales Aufzeichnen von Audios und Videos sowie deren Verwendung im politischen Machtkampf an, wie es schon unter Saakashvili der Fall war. Auch leitete der Staatsschutz eine Untersuchung zu möglichen Umsturzplänen ein.

Doch dass solche Szenarien realistisch sind, daran haben Vertreter/innen der Zivilgesellschaft Zweifel. Mikheil Benidze, Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für faire Wahlen und Demokratie (ISFED), sieht in der Bevölkerung keine Unterstützung für etwaige Pläne eines außerdemokratischen Machtwechsels in bestimmten Parteikreisen. Die Demokratie habe sich im Vergleich zu 2012 stabilisiert und die Institutionen funktionierten besser.

Auch Ana Natsvlishvili, Vorsitzende der Vereinigung junger Anwälte Georgiens, hält die Gesellschaft Georgiens für reifer als vor der „Rosenrevolution“ 2003, über die Saakashvili und seine Mitstreiter in die Regierungsverantwortung gekommen waren. Die Menschen in Georgien hätten ihre Schlüsse gezogen und gelernt. Sie seien weniger manipulierbar. Das Land habe eine demokratische Konsolidierung erfahren, so Natsvilisvhili.

Duell um die Macht

Allerdings verdeutlicht die Affäre um das Video die starke Polarisierung in der Parteienlandschaft der Südkaukasusrepublik, die von zwei Kräften dominiert wird: Einerseits die ehemalige Regierungspartei UNM, deren Anführer Saakashvili zwar inzwischen Gouverneur in der Ukraine ist, der aber weiterhin Einfluss auf die Partei und die Stimmung im Land zu nehmen versucht. Sein Widersacher ist der schwerreiche Geschäftsmann Bidzina Ivanishvili, der mit seiner Partei „Georgischer Traum“ 2012 den friedlichen Machtwechsel herbeigeführt hat. Auch er ist, nach einer kurzen Amtszeit als Premierminister, nicht mehr offiziell aktiv in der georgischen Politik, gibt aber weiterhin der Regierung und der Partei Handlungsanweisungen.

Letzteres hätten ehemalige Mitglieder der Regierung bestätigt, berichtete Nino Lejava, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi. Außerdem reise Ivanishvili durch das Land und erkläre den Wählern, wen sie wählen sollten. Seiner Partei „Georgischer Traum“ sei es indes nicht gelungen, sich als politischer Akteur zu stabilisieren und ein eigenes Profil zu entwickeln, so Lejava. Während der vergangenen vier Jahre in der Regierung habe die Partei mit ihren Koalitionspartnern immer nur auf den politischen Gegner UNM reagiert und in Bezug auf dessen Handlungen argumentiert.

Erekle Urushadze von Transparency International Georgia erzählte, dem „Georgischen Traum“ sei es anders als Saakashvilis Partei nicht gelungen, viel Macht in den Bereichen Medien, Wirtschaft und Justiz in ihren Händen zu konzentrieren. Allerdings seien Mitarbeiter aus Ivanishvilis Firmen in den öffentlichen Sektor gewechselt. Hier sei mit Korruption zu rechnen.

Wähler/innen erwarten Lösungen, keine Schlammschlachten

„Georgischer Traum“ und UNM würden sich gegenseitig mit Schmutz bewerfen, beschrieb Benidze das Verhältnis beider Parteien. Er erinnerte an einen Zwischenfall bei lokalen Nachwahlen im Mai, als Politiker der UNM von Anhängern des „Georgischen Traums“ nahe der Stadt Zugdidi geschlagen worden waren.

Doch die Menschen seien dieser Schlammschlachten müde, sagte Natsvilisvhili. Sie erwarteten, dass die Parteien stattdessen Lösungen für die sozialen und ökonomischen Probleme böten.

Im Wahlkampf habe es zwar keine richtigen Debatten über Parteiprogramme gegeben, so Natsvilisvhili. Doch hätten die Parteien Themen aufgenommen, die in den Medien und in der Bevölkerung debattiert worden seien. Ein Beispiel sei die restriktive Drogenpolitik. Alle Parteien hätten eine Liberalisierung versprochen, allerdings nicht genau erklärt, wie dies umgesetzt werden soll.

Raum für politische Debatten bieten zahlreiche TV-Talkshows, die auch zu bestimmten Themen abgehalten werden. Die Medienlandschaft sei insgesamt freier als während des Wahlkampfs 2012, so Benidze. Die landesweit ausgestrahlten Fernsehsender könnten kritisch über die Regierung berichten. Das treffe auch auf den TV-Sender Rustavi2 zu, der der UNM nahesteht. Zwar gebe es einen noch anhängigen Gerichtsfall um den Sender, vor der Wahl könne er aber arbeiten, sagte Benidze.

Nach wie vor würden Staatsressourcen für den Wahlkampf der Regierungspartei missbraucht, so gebe es Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, um die Wähler/innen gewogen zu stimmen. Auch würden Beamte für den Wahlkampf mobilisiert. Aber anders als 2012 würden Regierungsmitarbeiter nicht entlassen, wenn sie Anhänger der Opposition seien.

Die Lage sei nicht ideal, aber viel besser als im Wahlkampf 2012, fasste Natsvilisvhili die Situation zusammen.

Kein starker Wahlsieger zu erwarten

Benidze, Natsvilisvhili und Lejava gehen davon aus, dass weder „Georgischer Traum“ noch UNM ein so starkes Wahlergebnis erhalten werden, dass sie allein regieren können. Natsvilisvhili rechnet mit einer schwächeren Regierung als bisher. Andere Parteien, liberale und pro-russische Parteien werden voraussichtlich Einfluss auf die Regierungsbildung erhalten.

Lejava hob hervor, dass die Ungewissheit über den Wahlausgang ein Grund für Optimismus sei. Die Bürger und Bürgerinnen seien im Genuss von Freiheit und Demokratie. Vor vier Jahren hätten sie noch aus Protest gewählt. Heute wollten sie für konkrete Werte und Positionen abstimmen.

Natsvilisvhili wünschte sich neben UNM und „Georgischer Traum“ eine dritte starke politische Kraft, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen solle.

Alle georgischen Teilnehmer/innen der Debatte betonten, dass sich die Zivilgesellschaft Georgiens in den vergangenen Jahren stark entwickelt habe.

Urushadze erzählte, dass öffentliche Debatten zum Beispiel zur Stadtentwicklung in Tbilisi oder zur Luftverschmutzung von freiwilligen Aktivisten/innen aus der Zivilgesellschaft angeführt werden. Neben den Parteien sei Raum für politische Aktivitäten entstanden. Die Politiker/innen hätten verstanden, dass sie darauf antworten müssten.

Georgien demokratischer als seine Nachbarn

Der Einfluss der Politiker/innen sei begrenzt, stimmte Natsvilisvhili zu. Andere Akteure erkämpften sich mehr Raum in der Gesellschaft. Das mache Georgien zu einem besseren Platz als seine Nachbarstaaten. Dieser Raum müsse nun verteidigt werden.

Weil Georgien eine kleine Insel inmitten eines anti-demokratischen Tsunami in seiner Nachbarschaft sei, sei die Verbindung nach Westeuropa sehr wichtig, betonte Benidze. Die lange versprochene Visaliberalisierung für die EU wäre eine Anerkennung.

Die EU müsse ihr Versprechen zur Visaliberalisierung halten, um das Vertrauen zu bewahren, so Natsvilisvhili. Nicht nur habe Georgien alle Bedingungen erfüllt. Die EU sei ebenso eine Verpflichtung eingegangen.

Benidze wies zudem daraufhin, dass die Aussagen internationaler Politiker/innen in Georgien sehr wichtig genommen werden: Die Regierung höre stärker auf internationale Partner als auf interne Akteure.

Natsvilisvhili kritisierte jedoch, es gebe häufig ein schlechtes Verständnis von Ländern wie Georgien. Der Westen müsse auch Fehler zugeben. In Bezug auf Saakashvili und seine Partei UNM seien doppelte Standards angewendet worden. Denn es habe zahlreiche Verstöße gegen die Menschenrechte gegeben. Dazu hätten etwa Folter in den Gefängnissen oder die Erpressung politischer Gegner mittels illegal aufgenommener Videos aus deren Privatleben gehört.