Georgien: Gefangen in der Eskalationsspirale

Seit der Parlamentswahl Ende Oktober 2020 kommt Georgien nicht mehr zur Ruhe. Der Rücktritt des wegen seines Corona-Managements respektierten Premierministers Georgi Gakharia in Verbindung mit der Verhaftung des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei Nika Melia am 23. Februar 2021 ist nur ein weiterer Tiefpunkt dieser Entwicklung. Für die Belange der pandemiegebeutelten Gesellschaft interessiert sich die neoliberale politische Elite nicht. Ihr Egoismus begünstigt informelle Strukturen, die zu einer schleichenden „Russifizierung“ im Land führen.

Thousands protest in Tbilisi.February,2021

Der dritte Wahlsieg der Regierungspartei Georgischer Traum (Georgian Dream – GD) in Folge verbunden mit einer Reihe von Manipulationen und Verstößen[1] hat dazu geführt, dass die Oppositionsparteien dieses Ergebnis nicht akzeptiert haben. Geführt von der größten Oppositionspartei Vereinigte Nationale Bewegung (United National Movement – UNM) haben alle anderen sieben Parteien mit einem Anrecht auf Sitze im Parlament (bis auf wenige Ausnahmen) darauf verzichtet, diese anzunehmen. Sie fordern Neuwahlen und werfen dem GD vor, die Wahl in großem Umfang manipuliert zu haben. Die Hauptopponenten GD und UNM radikalisieren sich seit Monaten, Akteure, die zu Kompromissen bereit waren, wie der ehemalige Führer von UNM Grigol Vashadze und der zurückgetretene Premier Gakharia, haben ihre Partei oder die Politik überhaupt verlassen. Übrig geblieben sind die Hardliner, die die Eskalation weiter vorantreiben.

Polarisierung als Mobilisierung

Dabei greift die Dichotomie zu kurz, derzufolge UNM für eine Integration mit dem Westen und GD, mit seinem Gründer Bidzina Ivanishvili, für eine Annäherung an Russland stehe.[2] Beide Parteien stehen vor allem für den Egoismus der georgischen Eliten, für Selbstbereicherung und eine neoliberale Politik mit negativen sozioökonomischen Folgen für eine Mehrheit der Bevölkerung. Beide Parteien brauchen einander als Gegner, um ihre Unterstützer zu mobilisieren. In der Hinsicht war es nur konsequent, dass der neu gewählte Premier Irakli Gharabishvili als eine seiner ersten Amtshandlungen den Oppositionsführer Melia verhaften ließ, da dieser gegen Bewährungsauflagen aus einem fragwürdigen Gerichtsurteil verstoßen hatte. Damit hat er Melia und UNM in die Hände gespielt, da diese sich nun als Opfer und Märtyrer gegen die Regierungspartei inszenieren können.

Beiden Parteien geht es nicht um die Zukunft des Landes oder gar eine Richtungsentscheidung zwischen Russland und dem Westen. Vielmehr geht es um ihre eigenen Machtoptionen. Beide denken in absoluten Machtkategorien (winner takes it all) und beide würden, sobald sie an der Macht sind, administrative Ressourcen, Gerichte und Sicherheitsstrukturen gegen den politischen Gegner einsetzen, um die Macht zu behalten und sich selbst zu bereichern. Transparency International hat aufgezeigt, dass neun Personen und 15 Firmen, die zu den größten Spendern für GD 2019/20 zählen, durch vereinfachte Prozeduren an Staatsaufträge gekommen sind.[3] Während bei GD im Hintergrund der reichste Mann Georgiens Bidzinia Ivanishivli alle wichtigen Entscheidungen trifft, fördert bei UNM der im ukrainischen Exil lebende ehemalige Präsident Micheil Saakashvili die Polarisierung und verhindert Kompromisse. Ivanishvili hatte noch vor kurzem angekündigt, sich vollständig aus der Politik zurückzuziehen. Umso überraschender erscheint es, dass nach der Wahl nur ihm loyale Personen entscheidende Funktionen in seiner Partei und der Regierung erhalten haben. Den neuen Premier Garibashvili zeichneten in seiner ersten Amtszeit als Premier (2013-15) vor allem zwei Eigenschaften aus: Absolute Vasallentreue zu Ivanishvili und keinerlei Interesse an Kompromissen gegenüber der Opposition. Ohne Absprache mit Ivanishvili wird er keine wichtige Entscheidung treffen.

Egoismus, Korruption und Informalität

Für die georgische Gesellschaft, die mit der Pandemie in eine tiefe soziale und wirtschaftliche Krise gerutscht ist, da das Land vor allem vom Tourismus und Servicesektor abhängt, scheint sich keiner der Kontrahenten zu interessieren. Laut nationalem Statistikamt leben fast 20 Prozent der Menschen in Georgien unterhalb der Armutsgrenze.[4] Ein großer Teil der Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor und erhält während der Pandemie keinerlei soziale Hilfszahlungen. Beide Parteien stehen für Eliten, die das Land privatisiert haben und die besten Kuchenstücke meistbietend verkaufen. Der zurückgetretene Premier Gakharia hatte hohe Zustimmungsraten erhalten, weil er die Pandemie im Frühjahr gut gemanagt und versucht hat, die ökonomischen Folgen abzufedern.[5] Als er dann durch seinen Widerstand gegen die Verhaftung des Oppositionsführer eine gewisse Unabhängigkeit von der Parteilinie und Ivanischvili zeigte, musste er zurücktreten, auch um sich selbst nicht zu diskreditieren. Diese Muster beobachten wir seit Jahren: sobald ein Premier oder Minister zu unabhängig vom Parteigründer agiert, muss er gehen.

Der Vorwurf an GD und Bidzina Ivanishvili, der in den 1990er Jahren in Russland reich geworden ist, dass sie Georgien in den russischen Orbit zurückbringen wollen, ist jedoch irreführend. Sicher hat GD versucht, eine kooperativere Russlandpolitik als Micheil Saakashvili in seinen letzten Amtsjahren zu betreiben und damit auch eine gewisse Entspannung mit Moskau erreicht. Die transatlantische Integration wurde als Ziel dabei aber nie offiziell aufgegeben; zudem wird aktuell ein Antrag auf einen EU-Beitritt für 2024 vorbereitet. Was wir seit einigen Jahren jedoch beobachten, ist wachsende Korruption und die Stärkung informeller Strukturen in Georgien. Dabei instrumentalisiert die Regierungspartei zunehmend die Sicherheitsorgane und Gerichte in ihrem Interesse und nutzt sie auch gegen die Opposition. Auch in der zweiten Amtszeit von Micheil Saakschwili hat es diese Instrumentalisierung der Gerichte und Sicherheitsstrukturen im Sinne der damaligen Regierungspartei UNM gegeben. Georgien zählte am Ende der Amtszeit von Saakaschwili zu den Ländern mit der größten Anzahl an Gefängnisinsassen pro 100.000 Einwohner.

Somit lässt sich am ehesten von einer „schleichende Russifizierung“ im Sinne des Rückbaus von Reformerfolgen, der Schwächung formeller Institutionen zugunsten informeller und korrupter Praktiken sprechen. Damit führt die aktuelle Politik des Georgischen Traums und der georgischen politischen Elite weg von den Werten und Prinzipien der EU, ohne dass das Land seine geopolitische Ausrichtung verändert hat.

Fehlende politische Alternativen

Was Georgien fehlt, ist eine dritte Kraft, die eine alternative Politik zum Eliten-Egoismus der aktuell führenden Parteien darstellen kann. Umfragen zeigen, dass sich die Bevölkerung das wünscht. 30% der Wähler standen laut einer Umfrage von NDI/CRRC Ende 2020 keiner Partei nahe.[6] Die Hoffnung, im Vorfeld der Parlamentswahl, dass die neue Partei Lelo unter ihrem Gründer Mamukha Kazaradze diese dritte Kraft werden könnte, hat sich schnell verflüchtigt. Kazaradze, ein ehemaliger Banker und Geschäftsmann, konnte anfangs eine Reihe junger Talente aus dem progressiven und linken Milieu für seine Partei gewinnen. Aber schnell stellte sich heraus, dass er eine ähnliche Politik wie GD und UNM betreiben würde, Politik eher zur Absicherung seiner Geschäftsinteressen betrieb und wenig von innerparteilicher Demokratie hielt. Bei der Parlamentswahl landete Lelo bei knapp über drei Prozent der Stimmen. Solange es Georgien nicht schafft, aus der Zivilgesellschaft heraus alternative politische Bewegungen zu gründen, werden die Businesseliten die Geschicke des Landes in ihrem Interesse weiter bestimmen. Die Gründung der Partei „Die Grünen“ Ende 2020, die aus der Jugendorganisation Junge Grüne hervorgeht, ist vielleicht ein kleiner Hoffnungsschimmer. Doch dürfte es auch dieser Initiative sehr schwerfallen, sich im georgischen Parteiensystem ohne umfangreiche finanzielle Unterstützung zu etablieren und eigenen Ansprüchen an Transparenz und innerparteiliche Demokratie gerecht zu werden. Meist sind Parteien in Georgien wie in anderen postsowjetischen Ländern Wahlvereine für (wohlhabende) Personen, die ihre inhaltliche Ausrichtung ohne großes Aufheben der jeweils aktuellen politischen Konjunktur anpassen.

Diese Konstellation macht es für die EU schwer, in dem aktuellen Konflikt zu vermitteln und eine umfassende Transformation hin zu Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Institutionen zu unterstützen. Solche Reformen widersprechen nach wie vor den Interessen eines großen Teils der Eliten. In den letzten 15 Jahren war eine wichtige Dominante georgischer Politik die Integration in die transatlantischen Strukturen. Dabei hatten die USA und die EU immer großen Einfluss auf politische Entscheidungen in Georgien. Auch in der aktuellen politischen Krise sind es wieder die US-Botschafterin Kelly Degnan und der EU-Botschafter Carl Hartzell, die zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln versuchen. Dabei beobachten wir das erste Mal im Vorfeld der Parlamentswahl 2020, dass westliche Akteure für ihre Aktivitäten und Einmischung kritisiert werden. Im November 2019 kritisierte bereits Bidzina Ivanishivli, damals noch als Parteivorsitzender von GD, US-amerikanische Institutionen wie NDI und NRI als parteiisch, da sie irreführende Umfragen zu Ungunsten von GD verbreiten.[7] Einerseits werden in der aktuellen politischen Krise die westlichen Partner um Unterstützung gebeten, andererseits wird ihnen vorgeworfen, parteiisch zu sein, wenn es nicht im Sinne der eigenen Machtinteressen ist. Damit sind EU- und US-Vertreter/innen inzwischen Teil der innergeorgischen Eskalationsspirale geworden, ohne sie auflösen zu können. Neuwahlwahlen würden ohne eine alternative Kraft diese Polarisierung nicht auflösen.

Mehr EU wagen

Gleichzeitig verliert die EU zunehmend ihre transformative Kraft durch ihre innere Krise, die Krise in den transatlantischen Beziehungen unter Trump und durch ihre Abwesenheit als Sicherheitsakteur in einer Region, wo Sicherheit entscheidend ist. Die Abwesenheit von EU und USA im 2. Berg-Karabach-Krieg hat grundlegende Auswirkungen auf die geopolitische Konstellation im Südkaukasus. Allen drei Staaten ist deutlich geworden, dass sie in einer sicherheitspolitischen Krise nicht auf Washington und Brüssel zählen können. Insbesondere für die demokratischen Kräfte und die Zivilgesellschaft in Armenien und Aserbaidschan war das eine bittere Erkenntnis. Die Stationierung von „russischen Friedenstruppen“, nun auch in Aserbaidschan - bisher einziges Land im Südkaukasus ohne russische Soldaten auf seinem Territorium - und das Eingreifen der Türkei in diesen Krieg, wird zu einer stärkeren Ausrichtung der drei Staaten auf Russland und die Türkei führen. Für Georgien, dass bislang am stärksten transatlantisch ausgerichtete Land in der Region, ergibt sich mit dieser Machtverschiebung und der fehlenden EU- sowie NATO-Beitrittsperspektive eine wachsende Orientierungslosigkeit. Verbunden mit der Zunahme informeller Strukturen und von Korruption könnte das Land weiter von seinem demokratischen Weg abkommen.

Die Konsequenz für die EU-Mitgliedsstaaten kann nicht weniger, sondern nur mehr Engagement sein. Die Nachbarschaftspolitik braucht endlich eine stärkere sicherheitspolitische Komponente, die sowohl bei Reformen der Sicherheitsstrukturen in Georgien hilft, als auch ein stärkeres politisches Engagement bei der Vermittlung in den regionalen Konflikten. Die Bereitschaft in den regionalen Konflikten um Bergkarabach, Abchasien und Südossetien multilaterale Plattformen zu stärken, Friedensmissionen zur Verfügung zu stellen und die Rolle des EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus aufzuwerten, könnten dazu gehören. Ebenso sollten verschiedene Elemente von EU Politik wie der Bau von Infrastruktur, die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Investitionen in eine umfassende Strategie im Rahmen der Östlichen Nachbarschaftspolitik eingebunden werden, die auch mit einer wirksameren Konditionalität verbunden wird. Weiterhin sollte Georgien eine Beitrittsperspektive angeboten werden, wie auch immer diese in 10 - 15 Jahren aussehen wird. Georgien braucht einen Kompass, der in Teilen von der EU von außen gegeben werden kann. Jedoch ohne einen politischen Wechsel im Inneren, mit echten Alternativen wird die Eskalationsspirale weiterdrehen.