Vor einem Jahr sollte ein öffentlicher Platz im Herzen der armenischen Hauptstadt Eriwan geräumt werden. Der Grund? Ein kommerzielles Bauprojekt. Nachdem Boutiquen im Zentrum von den Stadtbehörden abgerissen wurden, sollten sie an einem neuen Ort wieder errichtet werden. Dass dies auf einem öffentlichen Platz geschehen sollte, schien den Bürgermeister nicht zu stören. Die Bauarbeiten begannen zügig, als die Genehmigungen vorlagen. Doch es dauert nur wenige Tage, bis sich der Zorn der Bürger in Form von Protestaktionen äußerte. Die Stadtverwaltung beharrte auf der Legitimität des Projekts, die Bauarbeiten wurden jedoch mit Sitzstreiks und Demonstrationen behindert. Keine sechs Wochen später musste der Präsident einlenken und die Aufhebung des Projekts verkünden.
So verlief im vorigen Jahr die Maschtoz-Park-Bewegung, bei der die Bewohner Eriwans einen seltenen Erfolg gegen die Umsetzung umstrittener Projekte der Stadtverwaltung erzielten. Im Vergleich zu den andauernden türkischen Protesten – die ebenfalls aus einer geplanten Parkschließung erwuchsen – stellt sich die Frage, wieso sich die armenische Regierung im Gegensatz zu Erdogans Kabinett gesprächsbereit gezeigt hat. Sicher, die Ereignisse in Eriwan eskalierten nicht so vehement wie in Istanbul, doch wie lässt sich erklären, dass die Maschtoz-Park-Bewegung in ihren politischen Forderungen weniger ambitioniert geblieben ist, als ihr türkischer Gegenpart?
Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung von 50 Prozent
Ihre Autorität hat die Regierung erst kürzlich wieder mit einer Tariferhöhung im öffentlichen Nahverkehr gezeigt, die auch zu den ersten Protestaktionen geführt hat. Die Preiserhöhung von 50 Prozent rechtfertigte sie mit den gestiegenen Gaspreisen. Die Polizei erklärte die Protestaktionen deshalb für gesetzeswidrig und verhaftetet am 23. Juli 2013 sechs friedliche Demonstranten. Diese wurden jedoch wenige Stunden später freigelassen.
Nach fünf Tagen anhaltender Straßenproteste ruderten die Machthaber zurück und legen ein provisorisches Ergebnis vor: Die Entscheidung über die Tariferhöhung vom 19. Juli wird ausgesetzt und eine Kommission soll ein neues Tarifsystem erarbeiten. In seiner Erklärung vom 25. Juli verkündet Bürgermeister Margarjan sogar, er würde sich über die Solidarität der Eriwaner zu den Beschlüssen freuen.
Wie der Maschtoz-Protest begann
Die Maschtoz-Park-Bewegung begann Anfang Februar 2012 mit Sitzstreiks, die den Bau der geplanten Ladengeschäfte im Park verhindern sollten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Baumaßnahmen der kommerziell genutzten Areale im Eriwaner Park bereits begonnen – scheinbar ohne das Wissen der Bevölkerung. Obwohl die armenische Polizei besonders bei Wahlen und Verhören als gewaltbereit gilt, verliefen die Demonstrationen weitgehend friedlich. Eine Ausnahme stellt die wiederholte Entfernung von Zelten dar, die Aktivisten angesichts tiefer Temperaturen auf dem Platz aufgestellt hatten.
Als Dutzende von Demonstranten am 20. Februar die Polizeiabsperrung durchbrechen, führte dies ebenfalls nicht zu weiteren Ausschreitungen. Einen Tag später schließen sich Parlamentarier der oppositionellen „Heritage“ Fraktion den Aktivisten mit einer gerichtlichen Beschwerde an. Dieser folgt eine öffentliche Petition. Die Maßnahmen der Projekt-Gegner bleiben allerdings ergebnislos: Die Polizei und die Baufirma fordern eine Fortsetzung der Bauarbeiten, auch die Stadtverwaltung zeigt sich nicht kompromissbereit und besteht auf der Rechtmässigkeit der Bauvorhaben.
Bald feiern die Aktivisten aber ihren ersten Erfolg: Im April kündigt Ministerpräsident Tigran Sargsjan an, einen Teil der Ladengeschäfte abzureissen. Es handle sich dabei jedoch nur um jene, die für einen längeren Zeitraum bewirtschaftet werden sollten. Der Großteil der Geschäfte sei ohnehin für eine kurze Nutzungsdauer ausgelegt und solle nach zwei bis drei Jahren wieder abgerissen werden. Damit waren die Aktivisten nicht einverstanden. Zum einen lehnten sie eine vorübergehende Nutzung des öffentlichen Platzes für kommerzielle Zwecke ab. Zum anderen gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die restlichen Anlagen nach der angekündigten Frist auch wirklich abgerissen würden. Somit wurde der Protest fortgesetzt.
Occupy Maschtoz!
Anders als im Falle der aktuellen Demonstrationswelle in der Türkei, ist die Maschtoz-Bewegung nicht wesentlich über ihre ursprüngliche Zielsetzung hinausgewachsen. Sie blieb sowohl inhaltlich als auch lokal verhaftet. Zwar haben sich Vertreter verschiedener ziviler Bewegungen (unter anderem Feministinnen und LGBT-Gruppen) dem Protest angeschlossen, und eine Wahrung des öffentlichen Raums sowie die Respektierung von Gesetzen und der Verfassung gefordert. Nach dem Ende der Baumaßnahmen ist dieser Protest jedoch schnell versickert. Neben den verstärkt sichtbaren Umweltschützern sind auch weniger organisierte Interessengruppen in Armenien zunehmend zum Protest bereit.
Viele Initiativen orientieren sich an internationalen Bewegungen, beispielsweise an „Occupy“, deren Präfix unter anderem von einigen Maschtoz-Aktivisten übernommen wurde („Occupy-Mashtots“). Dies deutet auf eine verwandte Methodik hin wie die Mobilisierung von Aktivisten über soziale Medien. Die eine Protestbewegung ohne eindeutige hierarchische Struktur suggeriert auch eine Identifikation mit dem Geist des „Occupy“-Phänomens.
Eine Resonanz aus dem Ausland ist aber weitgehend ausgeblieben, was sich wohl mit dem begrenzten Ausmaß der Maschtoz-Bewegung erklären lässt: Den Aktivisten gelingt keine populäre Mobilmachung im Stil der türkischen Proteste. Dies war auch in Georgiens Hauptstadt Tiflis der Fall, wo der Protest junger Aktivisten gegen Pläne der Restrukturierung des historischen Gudiaschwili-Platzes keinen wirklichen Anklang bei den lokalen Bewohnern gefunden hat. Selbst bei den gegenwärtigen Eriwaner Protesten gegen die Fahrpreiserhöhungen trifft die Polizei hauptsächlich auf junge Aktivisten. Der Versuch, auch Busfahrer zum Protest zu bewegen, scheiterte bisher.
Wenig Resonanz aus dem Ausland
Zu populärem Protest kommt es dann, wenn sich konkrete Interessengruppen finanziell oder gar existenziell bedroht fühlen: So wie bei den Taxifahrern, die seit mehreren Jahren wiederholt gegen wechselnde Auflagen der Regierung protestiert haben. Arpine Galfayan, Mitorganisatorin von „Save Mashtots“, vermutet, dass viele Interessengruppen sich ihrer Rechte nicht bewusst sind: „In Armenien gibt es weder eine Tradition, noch Präzedenzfälle mit Zivilinitiativen. Probleme werden nicht auf einem partizipativen, demokratischen Weg, sondern mit individuellen und gesetzeswidrigen Mitteln wie Korruption oder Klüngel aus der Welt geschafft. Dies gilt für alle Ebenen der Gesellschaft: in Schulen und Universitäten, am Arbeitsplatz oder in Familienkreisen.“
Bezeichnend für die aufkommende Umweltbewegung in Armenien ist deren Distanzierung von politischen Ideologien. Die Aktivisten von „Save Mashtots“ sowie „Save Teghut“ und „Save Trchkan“ (zwei verwandte Initiativen, die aus dem Protest gegen umstrittene Projekte von ausländischen und armenischen Investoren entstanden sind) bekennen sich zu keiner politischen Organisation oder Partei. Dies ist ein grosser Unterschied zu den aktuellen Protesten in der Türkei. Dennoch richtet sich ihre Kritik auch an die amtierende armenische Regierung, die immer wieder die Interessen von Großfirmen vor die Forderungen von Umweltschützern stellt.
Der Präsident greift ein
Dass die Regierung die Kritik wahrnimmt, bezeugen die Versicherungen des Ministerpräsidenten, die temporär genutzten Ladengeschäfte seien nicht gesetzeswidrig. Dies betont auch Präsident Sersch Sargsjan, als er am 1. Mai 2012 die Baustelle besucht. Dennoch ordnet Sargsjan nach dem knapp sechswöchigen Ringen der Aktivisten mit den Behörden die Abschaffung der Konstruktionen an. Als Grund benennt er die mangelhafte Ästhetik der Läden an. Eine fragwürdige Erklärung, zumal sie kurz vor den Parlamentswahlen eingesetzt wurde.
Sersch Sargsjans Entscheidung über die Abschaffung der Ladengeschäfte wirft eine Woche vor den Parlamentswahlen Fragen über die wirklichen Gründe auf. Sie spiegelt zugleich die zentralistischen Machtverhältnisse in der südkaukasischen Republik: Die Rechtsprechung der lokalen Regierung wurde durch Sargsjans Machtwort ebenso missachtet wie zuvor der Protest der Bürgerbewegung. Bürgermeister Margarjan hatte ähnlich wie der Ministerpräsident mit Verweis auf die vermeintliche Rechtslage auf die Fortsetzung des Projekts bestanden. Als Sieger dürfte sich daher wohl nur Sargsjan sehen, der mit seinem bescheidenen Zugeständnis an die Maschtoz-Aktivisten und einem größtenteils ereignislosen Verlauf der Proteste glimpflich davongekommen ist. Bei den Präsidentschaftswahlen am 18. Februar dieses Jahres wurde er zudem in seinem Amt bestätigt.
Wie geht es weiter?
Der friedliche Ausgang der Maschtoz-Proteste steht im Kontrast zu den Ausschreitungen in der Türkei. Ein tieferer Blick auf die Bewegung zeigt die schwierige Lage für bürgerliche Bewegungen im Südkaukasus: Gewaltbereite Polizeieinsätze, korrupte politische Verhältnisse und das Fehlen einer freien Presse bremsen die Entstehung demokratischer Prozesse. Die Maschtoz-Bewegung hat zwar gezeigt, dass auch in Armenien zivile Bewegungen Erfolg haben können und sie verfügt auch über eine Symbolkraft, doch hat sie letztlich weder die bestehenden Machtverhältnisse, noch den problematischen Umgang der Regierung mit der Umwelt wesentlich verändert.
Die jüngsten Proteste sind deshalb bemerkenswert, weil sie zeigen, dass die ursprüngliche Apathie verschwindet, die durch die sogenannten März-Ereignisse von 2008 entstanden war. Nach einem erbitterten Präsidentschaftswahlkampf kam es damals zu einer gewaltsamen Eskalation mit zehn Todesopfern und fast 200 Verletzten. Die Energie der jungen Aktivisten nimmt zu und die aufgestaute Frustration über die Machthaber in Armenien entläd sich immer wieder in neuen Protestwellen.
Nach den neuesten Ereignissen in Eriwan erklärte Ministerpräsident Tigran Sargsjan, werde man das Entstehen einer starken Zivilgesellschaft beobachten können. Und diesen neuen Faktor werde man bei den Entscheidungsprozessen berücksichtigen. Noch dürfte der Durst der Maschtoz-Demonstranten nach Selbstbestimmung nicht gestillt sein.