Die Türkei driftet ab - und Europa schaut zu

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Ralf Fücks schildert in seinem Reisebericht Eindrücke über die aktuelle politische Situation in der Türkei. Es ist ein Zeugnis der erschütternden Lage eines Landes, das den Weg zu einer Demokratie verlassen hat. 

Istanbul. Wer dieser Tage mit Bürgerrechtler/innen, Intellektuellen, entlassenen Journalist/innen und oppositionellen Parlamentarier/innen spricht, bekommt ein düsteres Bild der Lage. Ein Land mehr, das im Sauseschritt von einer unvollendeten Demokratie in eine vollendete autoritäre Herrschaft verwandelt wird. Der Putsch von Teilen des Militärs wurde von Erdogan genutzt, um einen Staatsstreich von oben ins Werk zu setzen, der jede Opposition gegen sein Regime ausschalten soll.

Das Ausmaß der Säuberungen und Repressalien geht weit über die Gülen-Bewegung hinaus. Sie treffen die pro-kurdischen, linken und liberalen Kräfte mit voller Härte. Unter dem Schirm des Ausnahmezustands wurden mit einem Federstrich 3.500 Richter/innen (darunter zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts) und 10.000 Lehrer/innen entlassen. 23 Fernseh- und Rundfunkstationen wurden geschlossen, um die 120 Journalist/innen verhaftet. Zahlreiche Hochschullehrer/innen wurden geschasst. Wir sprachen mit einem Professor für forensische Medizin, der nach 20 Jahren Lehrtätigkeit aus der Universität geworfen wurde. Auch seine Pensionsansprüche wurden kassiert. Sein Verbrechen: er gehörte zu den 2.200 Unterzeichner/innen eines Aufrufs für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage.

Einige hundert Unternehmen wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, weil sie angeblich zum Gülen-Netzwerk gehören. Die Gewaltenteilung ist faktisch außer Kraft gesetzt, die Massenmedien gleichgeschaltet. Das alles erinnert fatal an Russland unter Putin. Auch die Türkei ist auf dem Weg in einen autoritären Führerstaat. Faktisch gibt es bereits eine Präsidialherrschaft; Erdogan will diese Realität in der Verfassung verankern und durch ein Plebiszit bestätigen lassen. Seit der Niederschlagung des Putsches herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung und Gewalt. Vertreterinnen von Amnesty und des Helsinki-Komitees berichten von systematischen Misshandlungen von Gefangenen.

Gleichzeitig ist der Krieg im Südosten der Türkei wieder in vollem Gang. Von einem Waffenstillstand zwischen Regierung und PKK sind wir wieder Lichtjahre entfernt. Täglich gibt es Tote auf beiden Seiten. Der innertürkische Konflikt und die Kämpfe in Syrien und im Irak verstärken sich gegenseitig. Erdogan geht es darum, die Herausbildung einer grenzüberschreitenden kurdischen Autonomieregion zu verhindern.

Erdogans Krieg gegen die eigene Bevölkerung

Diyarbakir. Anfang des Jahres ging die türkische Armee mit schweren Waffen gegen aufständische Jugendliche vor, die Teile der Altstadt zur "befreiten Zone" erklärt hatten.

Luftaufnahmen* der historischen Altstadt von Diyarbakyr im Frühjahr 2015...

 

...und im Mai 2016, nach der Niederschlagung des Aufstands bewaffneter Jugendlicher durch die türkische Armee

 

...und im August 2016:

 

Das erste Foto zeigt die Bebauung vor den Kämpfen vom Januar/Februar, das zweite die Zerstörungen durch die Kampfhandlungen, das dritte den Abriss ganzer Straßenzüge im Kampfgebiet durch die Armee. Die grauen Flächen zeigen die großen Brachen im Stadtbild. Offenbar sollen alle Spuren verwischt werden, die auf das rücksichtslose Vorgehen der Armee verweisen. Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden 1519 Häuser demoliert, 23.000 Menschen verloren ihre Wohnungen. Alles in allem sollen als Folge der massiven Beschießung kurdischer Städte durch die Armee Ende 2015/Anfang 2016 rund 400.000 Menschen vertrieben worden sein. Dazu kommt noch eine hohe Zahl von Flüchtlingen aus dem nahen Syrien - allein in Diyarkabir sollen 45.000 Kriegsflüchtlinge gelandet sein, die sich irgendwie durchschlagen müssen.

Auch in anderen kurdischen Städten setzte die Armee ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Panzer, Artillerie und Kampfhubschrauber ein, um den bewaffneten Aufstand zu bekämpfen. 28 kurdische Städte wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, die gewählten Bürgermeister abgesetzt. Die Erbitterung ist groß.

Gestern wurden auch die beiden Bürgermeister von Diyarbakir wegen angeblicher Verbindungen zur PKK verhaftet. Wir saßen kurz zuvor noch Firat Anli, einem der Bürgermeister von Diyarbakir zusammen. Er kritisierte, dass die EU die Kurden im Stich lässt und Erdogan freie Hand gibt. Recht hat er.

Kritikern droht Entlassung oder Gefängnis

Man muss wissen, dass es genügt, in Reden oder Artikeln ein Autonomiestatut für die kurdischen Gebiete zu fordern oder das Vorgehen der Staatsgewalt zu kritisieren, um entlassen zu werden oder ins Gefängnis zu wandern. Allein in Diyarbakir wurden nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 4500 Lehrer/Innen auf die Straße gesetzt, obwohl sie mit der Gülen-Bewegung nichts zu tun hatten. Auch ihnen wurde Unterstützung der PKK vorgeworfen. Statt in einen ernsthaften Dialog mit den PKK-kritischen Kräften in der kurdischen Politik und Zivilgesellschaft zu treten, zerstört die Repression jeden Ansatz einer demokratischen Alternative und treibt der PKK neuen Nachwuchs zu. Es gibt deutliche Kritik an der PKK, die junge Leute in ein aussichtsloses Abenteuer geschickt und die Bevölkerung der Gewalt der türkischen Armee ausgeliefert hat. Erdogan braucht die PKK, um den türkischen Nationalismus zu füttern und die Öffentlichkeit in einem permanenten Ausnahmezustand zu halten, wie umgekehrt die Kriegspolitik des türkischen Staates die PKK am Leben hält.

Die USA und die EU haben ihren politischen Rest-Kredit in der Türkei weitgehend verspielt. Ihre halbherzige, unentschlossene Politik in der Region, ihre inneren Krisen und das bemühte Hinwegsehen über das Aushebeln demokratischer Grundrechte durch Erdogan & Co haben ihre Einflussmöglichkeiten drastisch reduziert. Während der starke Mann der Türkei fast täglich in aller Öffentlichkeit die USA und Europa angeht, wich er sofort zurück, als Putin nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets mit schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen drohte.

Ein Abgeordneter der BHP, einem Sammelbecken prokurdischer und links-demokratischer Kräfte, konstatierte bitter, dass der Westen gegenüber der Türkei weder "sticks" noch "carrots" parat hat, sondern hilflos zwischen Kollaboration mit Erdogan und zahnlosen Ermahnungen schwankt. Auf absehbare Zeit geht es für die pro-europäischen Freigeister in der Türkei ums politische Überleben - in vielen Fällen sind sie auch in ihrer persönlichen Existenz bedroht. Sie brauchen unsere Empathie und praktisch-politische Solidarität. Was tun? Das mindeste ist, dass die EU ihr Schweigen über die massiven Menschenrechtsverletzungen in der Südosttürkei bricht. Es würde schon helfen, wenn europäische Parlamentarier/innen und Journalist/innen verstärkt in die Region reisen. Auch Stipendien für kurdische Künstler/innen, Student/innen und Intellektuelle wären eine willkommene Geste. Jetzt ist auch der richtige Zeitpunkt, um ein deutsches Kulturinstitut in Diyarbakir zu eröffnen. Die Lage in der Region ist schlimm genug. Sie wird hoffnungslos, wenn die Leute das Gefühl haben, dass Europa sie abgeschrieben hat.

*Die Luftaufnahmen wurden uns in einem Gespräch mit Bürgermeister Firat Anli kurz vor seiner Verhaftung gezeigt.