Deutschland hätte zu Beginn der Corona-Krise von Georgien lernen können, sagt Stefan Meister, Leiter des Heinrich-Böll-Büros in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Meister beobachtet für die parteinahe Böll-Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen die Staaten des Südkaukasus.
ZEIT ONLINE: Über die drei Länder des Südkaukasus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan, heißt es, dass sie sehr schnell und konsequent reagiert haben, als die Corona-Pandemie bei ihnen begann. Hätte man in Deutschland oder Italien etwas von diesen Ländern lernen können?
Stefan Meister: Von Georgien schon. Die Regierung hat, teils entgegen dem Rat der WHO, sehr früh gehandelt. Ende Februar traten die ersten Corona-Fälle auf. Sofort hat die Regierung alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen geschlossen. An den Grenzen wurde Fieber gemessen, bei erhöhter Temperatur wurden Einreisende isoliert. Dann wurden Reisebeschränkungen verhängt. Offiziell hat Georgien heute knapp über 300 Corona-Infizierte. Die Dunkelziffer ist natürlich höher.
ZEIT ONLINE: Und Armenien und Aserbaidschan?
Meister: Die waren etwas langsamer und haben dreimal so hohe Infektionsraten, waren mit Restriktionen aber trotzdem schneller als viele EU-Staaten. Aserbaidschan hat seine Grenze zum Iran, wo es sehr viele Infizierte gab, zu spät geschlossen. Aber auch dort wurde ab Anfang März bei Einreisenden die Temperatur gemessen und das öffentliche Leben runtergefahren. In allen drei Ländern wissen die Regierungen genau, dass die Gesundheitssysteme eine Epidemie nicht stemmen können. In Georgien hatte man im Dezember gerade erst eine Grippewelle überstanden.
ZEIT ONLINE: Wie kommt es, dass Georgien, das schon vor der Pandemie in einer schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage steckte, so effizient reagiert hat?
Meister: Der georgische Premierminister Giorgi Gacharia hat sofort auf Experten gehört und die Maßnahmen konsequent umgesetzt. Das Hören auf Experten in einer fundamentalen Krise und die Transparenz wurden sehr positiv aufgenommen. Es gab eine Art Söder-Effekt in Georgien.
ZEIT ONLINE: Gibt es einen georgischen Christian Drosten?
Meister: Den gibt es! Das ist der Direktor des nationalen Zentrums für Krankheitskontrolle und öffentliche Gesundheit, Amiran Gamkrelidze, der mittlerweile ein TV-Star ist und Kultstatus genießt. Auf ihn und seinen Stellvertreter hört die Regierung. Es gibt zudem fast eine Art Pakt zwischen Opposition, Medien und Regierung, um durch die Krise zu kommen. Das ist sehr ungewöhnlich für das normalerweise politisch polarisierte Georgien. Mal schauen, wie es wird, wenn die Parlamentswahl Ende Oktober näherrückt.
ZEIT ONLINE: In Aserbaidschan benutzt Präsident Ilham Alijew die Krise, um mit der Opposition abzurechnen.
Meister: Präsident Alijew hat die Opposition als fünfte Kolonne bezeichnet. Danach wurden Oppositionelle aufgrund von angeblichen Verstößen gegen Ausgangssperren verhaftet und teilweise tätlich angegriffen. Einige wurden für bis zu 30 Tage ins Gefängnis gesteckt. Hier wird ein Sündenbock für die aufziehende Wirtschaftskrise gesucht, die vor allem durch den niedrigen Ölpreis verstärkt wird. Man versucht, von den eigenen Schwächen und Fehlern abzulenken.
ZEIT ONLINE: Und in Armenien?
Meister: Premierminister Nikol Paschinjan, der nach der samtenen Revolution versucht hat, das Land stärker zu öffnen und zu demokratisieren, zeigt sich restriktiver, auch beim Krisenmanagement und gegenüber den Medien, die beispielsweise Erfahrungsberichte aus Krankenhäusern nicht veröffentlichen durften.
ZEIT ONLINE: Die Corona-Krise bringt das, was schon da ist, noch stärker zum Vorschein?
Meister: Das sieht man bei Paschinjan. Um ihn gab es einen Personenkult, er gilt als demokratischer Erneuerer. Paschinjan versuchte, sich mit dem Verfassungsgericht anzulegen und die Richter auszutauschen, die Korruptionsbekämpfung blockiert haben. Diese Reform wollte er unbedingt noch vollenden und das Parlament über sie abstimmen lassen. Dafür spielte er zunächst die Nachrichten über Corona eher runter.
ZEIT ONLINE: Es wirkt paradox – die samtene Revolution 2018 in Armenien hat eine Reihe von unabhängigen Onlinemedien gestärkt. Nun wendet Paschinjan sich gegen diese Medien. Wie kann das sein?
Meister: Und er ist auch noch selbst Journalist gewesen und hat sich dafür eingesetzt, dass es freie Medien gibt! Aber man muss den Kontext sehen: Viele große Medien in Armenien sind weiterhin in den Händen der früheren Präsidenten, der Clique seiner Vorgänger. Diese haben Paschinjan persönlich hart angegriffen und Desinformationen verbreitet. Paschinjan hat dann, anstatt unabhängige Medien zu stärken oder eine gute Kommunikationspolitik als Premier aufzubauen, per Facebook erklärt, wie es wirklich läuft. So aber verstärkt er eigentlich ein Muster, das er bekämpfen wollte. Immerhin: Nach internationaler Kritik wurde das Mediengesetz nachgebessert und die massiven Einschränkungen für staatlich nicht verifizierte Berichte zurückgenommen.
ZEIT ONLINE: Wie berichten georgische Medien über die Corona-Krise?
Meister: Selbst kritische Medien sind relativ wohlwollend gegenüber der Regierung. Wenn sie kritisieren, dann, dass die Regierung im Umgang mit der Kirche entschiedener sein könnte, die sich bislang nicht an den Notstand hält und orthodoxe Ostermessen abhalten will. Die Regierung will die Kirchen dennoch nicht schließen und akzeptiert trotz der Ausbreitungsgefahr deren Autorität.