Präsidentschaftswahl in Georgien: Zorn und Hoffnungslosigkeit

In ein paar Wochen bekommt Georgien einen neuen Präsidenten bzw. eine neue Präsidentin, den letzten (oder die letzte), der/die durch eine direkte Volksabstimmung gewählt werden wird. Der kurze, zugleich aber äußerst erhitzte Wahlkampf offenbarte die List und die Hohlheit der georgischen politischen Elite.

Im ersten Durchgang am 28. Oktober 2018 ist es keinem der Kandidaten gelungen, sich mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen zu sichern. Folglich wird es spätestens am 2. Dezember eine Stichwahl zwischen den beiden Anwärtern mit den meisten Stimmen im ersten Wahlgang geben. Die von der Regierungspartei Georgischer Traum unterstützte unabhängige Kandidatin Salome Surabischwili erhielt 38,64 Prozent der Stimmen, ihr schärfster Konkurrent Grigol Waschadse von der oppositionellen Vereinten Nationalen Bewegung kam auf 37,74 Prozent.

Salome Surabischwili, französische Diplomatin, diente ein Jahr lang (2004-2005) als georgische Außenministerin in der Regierung der Vereinten Nationalen Bewegung, wonach sie ins Oppositionslager wechselte. 2016 wurde sie mit Unterstützung des Georgischen Traums als unabhängige Abgeordnete ins Parlament gewählt. Surabischwilis größtes Verdienst als frühere Außenministerin liegt nach Einschätzung ihrer Anhänger in ihrer Rolle beim Abzug der russischen Militärstützpunkte aus Georgien.

Auch Grigol Waschadse hatte den Posten des georgischen Außenministers inne – in den Jahren 2008 bis 2012. Davor war er als privater Unternehmer tätig. Noch früher, zu den Zeiten der UdSSR, arbeitete er im sowjetischen Außenministerium. Seine Unterstützer halten ihn für einen Politiker mit modernem Staatsdenken.

10,97 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt der ehemalige Parlamentspräsident David Bakradse, der Kandidat der Partei Europäisches Georgien, die sich vor etwa einem Jahr von der Vereinten Nationalen Bewegung abgespalten hatte. Während des Wahlkamps präsentierte sich Bakradse als eine Alternative zu den beiden Favoriten, als eine dritte Macht. Es bleibt jedoch unklar, inwieweit sich die neugegründete Partei von ihrer Mutterorganisation unterscheidet.

Mit der Wahl des neuen Präsidenten tritt auch die Verfassungsänderung in Kraft, nach der Georgien vom präsidentiellen auf das parlamentarische Regierungssystem umsteigen wird. Unter diesem System hat das Amt des Präsidenten meist zeremoniellen Charakter. Doch die scheinbar unwichtige Wahl eines weitgehend machtlosen Präsidenten wurde von den rivalisierenden Parteien als eine Generalprobe für die 2020 angesetzten Parlamentswahlen aufgefasst. Somit wurde der Urnengang zu einer Umfrage, deren Teilnehmer die sechsjährige Amtsperiode der Regierungspartei Georgischer Traum und deren Vorsitzenden, des reichsten Georgiers Bidsina Iwanischwili einschätzen sollten. Die Wähler gaben ihre Stimmen diesmal weniger für oder gegen einen konkreten Kandidaten, sondern vielmehr für oder gegen die politische Organisation, die hinter dem einzelnen Bewerber steht. Da keine Mechanismen für eine direkte Wählerbeteiligung am Entscheidungsprozess vorhanden sind, bleiben die Wahlen das einzige Instrument, mit dessen Hilfe das Volk seine Stimme für die politische Klasse hörbar machen kann. Die relativ niedrige Wahlbeteiligung im ersten Durchgang (46,74 Prozent) zeugt davon, dass ein großer Teil der Bevölkerung der politischen Elite misstrauisch gegenübersteht, sich entfremdet von ihr fühlt.

Trotz einiger Unregelmäßigkeiten fallen die Einschätzungen internationaler Wahlbeobachter in der Regel positiv aus, Georgien wird häufig für die „demokratisch durchgeführten Wahlen“ gelobt. Dies ist das kollektive Verdienst des georgischen Volkes. Doch den georgischen Wahlen mangelt es an etwas Wesentlichem: Für die Wähler stellen sie keineswegs eine Möglichkeit der Wahl zwischen alternativen Sichtweisen der Entwicklung des Landes dar, sondern sind eher eine Art Plebiszit über die Arbeit der Regierung. Nach den Wahlen wird eine Gruppe von Politikern durch eine andere ersetzt, fast immer unverändert bleibt jedoch der Alltag der georgischen Bevölkerung.

Wer ist krimineller?

Am 1. Dezember 2017 wurden in Tbilissi zwei Schüler bei einer Schlägerei mit Messerstichen schwer verletzt. Der eine starb noch am Tatort, der andere erlag wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Die Ermittlungen wurden eingeleitet, die Zeugen befragt, die Verdächtigen verhaftet. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Fall, der ein trübes Bild der in den georgischen Schulen herrschenden Umstände lieferte, auch jene hässlichen Methoden zutage bringen würde, die – wie es sich herausstellte – in den Strafverfolgungsbehörden gang und gäbe sind. Dies wurde zum Hauptthema des Wahlkampfes.

Die Geschichte entwickelte sich folgendermaßen: Das Gericht bestätigte fast den Verdacht des Vaters von einem der getöteten Schüler, Sasa Ssaralidse, dass der Fall nicht gewissenhaft untersucht worden sei, was – wiederum nach Auffassung des Vaters – auf die Einwirkung seitens einiger einflussreicher Eltern der beteiligten Schüler zurückzuführen sei. Im Mai 2018 wurden die Straßen von Tbilissi von einer Protestwelle überflutet, woraufhin der Oberstaatsanwalt des Landes von seinem Posten zurücktrat. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde ins Leben gerufen, der mitten im Wahlkampf seinen Bericht veröffentlichte. Dieser Bericht bekräftigte im Großen und Ganzen den Verdacht, dass bei der Untersuchung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei und dass die Ermittler versuchten, den wahren Täter abzuschirmen. Der Vater des getöteten Schülers setzt seine Protestaktion auf dem Hauptplatz von Tbilissi fort. Für viele Georgier ist er zu einem Symbol von Tapferkeit und Willensstärke geworden.

Ein solches Fehlverhalten der Ermittlungsbehörden ließ bei den Georgiern alte Wunden wieder aufbrechen. Viel zu oft hatte man in den letzten Jahren betont, dass Georgischer Traum in erster Linie dafür gewählt wurde, um dem verbrecherischen Tun der Strafverfolgungs-, Justiz- und Strafvollzugsbehörden ein Ende zu setzen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Sechs Jahre nach dem Regierungswechsel ist es dem Georgischen Traum, nach Ansicht vieler Georgier, immer noch nicht gelungen, ihr Versprechen im Hinblick auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit einzuhalten. Die Regierungspartei hat, anders als versprochen, keinen Sonderausschuss zur Wahrheitsfindung etabliert, der die Straftaten der Vorgängerregierung genauestens untersuchen und die Opfer nach Möglichkeit unterstützen würde. Stattdessen ließ Georgischer Traum keine Möglichkeit aus, das Wertesystem der Vereinten Nationalen Bewegung zu kritisieren, um somit seine eigene moralische Überlegenheit zu demonstrieren.

Die schweren Verfehlungen bei der Untersuchung des doppelten Schülermordes bewirkten etwas, was keine andere, vielleicht noch gravierendere Zuwiderhandlung je zu bewirken vermocht hatte: Sie nahm dem Georgischen Traum jene moralische Überlegenheit weg, mit der sie lauthals über die Missetaten der Vereinten Nationalen Bewegung zu sprechen pflegte. Dies könnte in der Partei zu wichtigen Veränderungen führen. Bisher waren die meisten Anhänger der Regierungspartei unter dem negativen Vorzeichen vereint. Es war eine tiefe Abneigung, ja die Abscheu gegenüber dem Führungsstil der Vereinten Nationalen Bewegung. Trotz einiger zaghafter Reformen im Gesundheits- bzw. Sozialwesen ist es dem regierenden Team nicht gelungen, den Kreis seiner Verbündeten durch Lösung wichtiger Probleme (z.B. durch Abbau der hohen Arbeitslosigkeit) zu vergrößern. Dem Georgischen Traum, der seine „moralische Überlegenheit“ verlor, blieb also kein weiteres Argument, das seine Anhänger überzeugen könnte.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nur zu logisch, dass die Machthaber ihren eigenen Vorteil dadurch zu begründen anfingen, dass der Vorgänger „noch krimineller“ gewesen war. Im Lauf des Wahlkamps wiederholte Irakli Kobachidse, Parlamentspräsident und eines der führenden Mitglieder des Georgischen Traums, immer wieder, dass trotz einiger Fehler es der Regierungspartei niemand vorwerfen könne (anders als im Fall der Vereinten Nationalen Bewegung), dass sie sich an systematischen Verbrechen am georgischen Volk beteiligte. Das Argument des „Noch-krimineller-seins“ wurde auch von den Oppositionsparteien recht häufig benutzt, wenn es um die Einschätzung der Kandidatin ging, welche die Unterstützung der Regierung genoss. Immer wieder bezichtigten sie Salome Surabischwili des Landesverrats, indem sie an deren Aussage erinnerten, Georgien hätte im russisch-georgischen Krieg von 2008 seine eigene Bevölkerung bombardiert. Die scharfe Kritik von Surabischwili durch die oppositionellen Politiker enthält fast immer eine Andeutung darauf, dass der Verrat an den Interessen des eigenen Landes „am kriminellsten“ sei.

Das Paradigma des „Noch-krimineller-seins“ unterstrich ein weiteres Mal, dass das größte symbolische Kapital der georgischen politischen Parteien darin liegt, einander der Ausübung krimineller Tätigkeit zu beschuldigen. Weder die Parteien noch ihre Kandidaten haben sich Mühe gegeben, den Wählern ausführlich über ihre politischen Programme zu erzählen. Der Wahlmarathon hinterließ den Eindruck, dass die Wahlen in Georgien der Bevölkerung keine Möglichkeit bieten, eine politische Wahl zu treffen.

Antikorruption statt Politik

Das Schlimmste sei, dass das Hauptexporterzeugnis Georgiens seine eigene Bevölkerung sei – meinte der norwegische Ökonom Erik S. Reinert, als er vor einigen Jahren Georgien besuchte. Vielleicht drückt sich die Niederlage in der postsowjetischen Entwicklung gerade dadurch am deutlichsten aus: Nach dem blutigen Abschied von Russland kehren viele Georgier und Georgierinnen nach Russland zurück, diesmal als verzweifelte illegale Arbeiter. Wer Georgien als ein Land kennt, das erfolgreiche Antikorruptionsreformen durchgeführt hat, wird mit Sicherheit darüber staunen, dass diejenigen, die im Land geblieben sind, ums Überleben kämpfen. In diesem Kampf werden viele getötet: In den letzten zehn Jahren starben bzw. verletzten sich über 1200 Personen wegen der Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz.

Mitten im Wahlkampf machte ein lokaler Gewerkschaftsbund, Solidaritätsnetz, allen Präsidentschaftskandidaten öffentlich einen Vorschlag, ihre eigene Sicht bezüglich des gesetzlichen Arbeiterschutzes. Der einzige, der auf diesen Vorschlag reagierte, war der Kandidat der rechts-populistischen Vereinigung Girtschi. Er meinte, dass die Arbeitsverhältnisse einzig und allein zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer geregelt werden sollten. Er tritt dafür ein, das Arbeitsgesetz gänzlich abzuschaffen. Die anderen Anwärter des Präsidentenamtes zogen es vor, kein Wort zu dem Thema zu verlieren. Was bedeutet dieses Schweigen?

Seit Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit sieht die georgische politische Elite die freien Marktreformen als einzigen Weg zur Entwicklung und zum Wohlstand. Diese Reformen sollen zum Einen den freien Markt von der Einmischung seitens des Volkes schützen, zum Anderen eine Staatsstruktur schaffen, die den Interessen der Unternehmen dienen würde. Die Formel klingt so: Der kleine Staat für die Arbeit, der große Kindermädchenstaat für das Kapital. Die Grundlage für eine solche Sichtweise findet man in der georgischen Verfassung, die dem Parlament das Recht verweigert, die Steuern zu erhöhen und das progressive Steuersystem einzuführen. Trotz der wiederholten Versprechen verschiedener Staatsoberhäupter bleibt die Armutsrate hoch. Was die ungleichmäßige Verteilung der Einnahmen betrifft, so zählt Georgien in diesem Punkt zu den „führenden“ Nationen der Region. Der Reichtum ist – entgegen anders lautender Beteuerungen – nicht auf die Bevölkerung heruntergelaufen.

Was haben die Kandidaten zu diesem ungerechten System zu sagen? Fast gar nichts. Mehr noch: Vielleicht ist die Treue zum neoliberalen Modell der Staatsentwicklung gerade das, was sie vereinigt und einander ähnlich macht. Während des Wahlkampfes sagte Bidsina Iwanischwili, der Vorsitzende der Regierungspartei und der reichste Georgier, dass Armut und Besitzlosigkeit zur Kategorie der individuellen Verantwortung gehören. Währenddessen setzten sich die oppositionellen Kandidaten für die weitere Senkung der Steuern ein. Und das in einem Land, wo die Steuern weltweit am niedrigsten sind. David Bakradse, Kandidat des Europäischen Georgiens, der Partei, die sich unlängst von der Vereinten Nationalen Bewegung abspaltete, der sich niemals für die Rechte der Arbeiter interessiert hatte, versprach den Wählern, ihnen bei der Suche eines legalen Arbeitsplatzes im Ausland zu helfen. Der Schluss liegt nahe, dass die politische Elite keine Alternative für menschenverachtende und würdelose Arbeit in Georgien sieht und nun versucht, den Georgiern bessere Arbeitsbedingungen fern der Heimat, im Ausland, anzubieten.

Wenn das Bild in der Tat so trüb ist, wieso schafften es die politischen Parteien und ihre Kandidaten doch noch, mit den Wählern über deren wichtigste Probleme zu reden? Was ihnen dabei half, war die Antikorruptionsidee. Die Opposition erklärte die Korruption zum Hauptschuldner an Armut. Dieses Wort – Korruption – wurde zum meistgebrauchten Wort des gesamten Wahlkampfes. Es sollte der Eindruck entstehen, dass alles in Ordnung wäre, wären die hohen Staatsbeamten nur nicht so korrupt. Die Medien hatten ihren Anteil an diesem Antikorruptionsboom, indem sie mit schöner Regelmäßigkeit über fragwürdige Einnahmen der Politiker, ihre riesengroßen Datschas und den im öffentlichen Dienst verbreiteten Nepotismus berichteten. Diese allumfassende Antikorruptionsmantra kulminierte im Wahlversprechen der oppositionellen Vereinten Nationalen Bewegung. Sie versprach nämlich, im Falle des Wahlsiegs eine solche unabhängige Antikorruptionsbehörde ins Leben zu rufen, dessen Leiter nicht von korrumpierten lokalen Politikern, sondern von ausländischen Experten bestimmt werden würden.

Keine Frage, Korruption ist ein schweres Übel und auch in Georgien macht sie ihre böse Sache. Doch wenn der Kampf gegen die Korruption zur Lösung aller existierenden Probleme der Gesellschaft erklärt wird, nimmt er die Stelle der Politik ein; der Politik als Sorge für das Allgemeingut, als ordnende Kraft, als Recht und Möglichkeit, Verantwortung für das Allgemeine zu übernehmen. Doch die georgische Antikorruptionsmantra ist selbst korrupt, indem sie die Problemursache verfälscht und die Rolle der Politik für sich beansprucht.

Verfassungsreform: Progressive Utopie der Europäisierung

Nach der Verfassungsreform, die das Präsidentenamt in vielerlei Hinsicht erheblich schwächte, hat kaum jemand erwartet, dass gerade Präsidentschaftswahlen zum brisantesten politischen Ereignis der letzten Jahre werden würden. Die massiven Veränderungen in der Verfassung treten gleich nach der Wahl eines neuen Präsidenten (oder einer neuen Präsidentin) in Kraft. Nach der Behauptung des Regierungsteams, wird die Reform des Grundgesetzes Georgien zu einer parlamentarischen Republik europäischen Typs transformieren. Eine der Veränderungen impliziert die Abschaffung der direkten Volkswahl des Präsidenten, was übrigens zu einem der meistdiskutierten Punkte der gesamten Reform wurde. In Georgien glauben viele, dass das Hauptziel der Reform die Schwächung des Präsidialamtes war. Diese Meinung vertrat auch der gegenwärtige Präsident Giorgi Margwelaschwili, der sich weigerte, bei der Vorbereitung der Verfassungsreform mitzuwirken.

Gemäß den Änderungen, wird der georgische Präsident künftig nicht mehr von der Bevölkerung, sondern von einem Sonderkollegium gewählt. Das Kollegium wird aus Personen zusammengesetzt werden, die ausschließlich nur Wahlämter bekleiden. Die Kompetenzen des Präsidenten werden drastisch eingeschränkt. Es wird nicht mehr in seiner Macht liegen, den von der parlamentarischen Mehrheit vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten abzulehnen. Genauso wenig wird er die Richter für das Oberste Gericht des Landes auswählen können. Die Reform wird auch den Nationalen Sicherheitsrat abschaffen, ein Verfassungsgremium, das sich mit Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik befasste und vom Präsidenten geleitet wurde. Nominell bleibt der Präsident jedoch Staatsoberhaupt. Er behält das Recht, sein Veto bei den vom Parlament verabschiedeten Gesetzesentwürfen einzulegen, Verurteilte zu begnadigen und bei den Fragen der An- bzw. Aberkennung der Staatsangehörigkeit Entscheidungen zu treffen.

Die Hauptfrage, die in der heftigen Diskussion bezüglich der Verfassungsänderungen unbeantwortet blieb, ist die: Wieso waren diese Änderungen überhaupt notwendig, besonders zu einer Zeit, als die große Mehrheit der georgischen Bevölkerung sich für die Einhaltung der direkten Volkswahl ausgesprochen hatte? Die Regierungspartei begründete ihre Entscheidung mit der „europäischen Erfahrung“ und behauptete, dass für Europas parlamentarische Demokratie eine indirekte Wahl des Präsidenten und dessen eingeschränkte Kompetenzen nichts Fremdes sei. Die Gegner der Verfassungsreform, statt über die spezifischen georgischen Bedürfnisse zu reden, wiesen auf solche europäische Staaten hin, wo – trotz des parlamentarischen Regierungssystems – Präsident direkt von der Bevölkerung gewählt wird.

In dieser komparativistisch-rechtlich geprägten Debatte gab es keinen Platz für lokale, eigene Interessen. Und auch die Hauptfrage blieb unbeantwortet. Niemand in Georgien wundert sich, wenn bei der Lösung wichtiger Probleme stets an europäische Erfahrung appelliert wird. Niemand wundert sich, weil in einem nach Europa strebenden Land die Nachahmung Europas als Fortschritt verstanden wird. „Mach es Europa nach!“, wird uns ständig von denjenigen eingebläut, die von Modernisierung und Fortschritt sprechen. Im Laufe der Diskussion im Verfassungsausschuss über die Frage der Präsidentenwahl wurde etwas deutlich, was im Diskurs um die Europäisierung Georgiens nicht auf den ersten Blick zu erkennen war: Um die gewünschten, jedoch umstrittenen Gesetzesentwürfe durchzufechten, zieht die Regierung ein ähnliches Gesetz aus einem der europäischen Länder zu Hilfe, um dadurch die fragwürdige Initiative zu „europäisieren“, sprich: normalisieren. Andererseits aber, wenn immer die noch kleinen und schwachen Gruppen, die sich mit sozialer Gerechtigkeit beschäftigen, den Verfassungsausschuss aufforderten, europäische soziale und Wohlfahrtsgremien einzurichten, bekamen sie stets die gleiche Antwort: Georgien sei wirtschaftlich noch nicht dazu bereit, Vermögensverteilung auf europäische Art und Weise zu gewährleisten. Das, was in Europa normal sei, sei abnormal außerhalb der europäischen Grenzen, behauptete gleichstimmig die politische Elite. So funktioniert in Georgien die progressive Utopie der Europäisierung.

Anstelle eines Fazits

Sobald der zweite Wahlgang ausgerufen wurde, begannen viele Georgier, sich Sorgen über eine mögliche Rückkehr der Vereinten Nationalen Bewegung an die Macht zu machen. Die Straftaten, die während der Herrschaft dieser Partei begangen wurden, u.a. Folter sowie unmenschliche und erniedrigende Behandlung der Gefangenen, sind noch wach in Erinnerung vieler. Zur gleichen Zeit beginnt eine über Jahre akkumulierte allgemeine Unzufriedenheit mit der Tätigkeit der Regierungspartei, sich Luft zu machen. Aus der akademischen Mittelklasse hört man immer häufiger den paradoxalen, um nicht zu sagen, zynischen Aufruf, man stimme lieber für die Vereinte Nationale Bewegung, wenn man verhindern wolle, dass sich Georgischer Traum in die neue Vereinte Nationale Bewegung verwandelt. Sowohl Prognosenliebhabern als auch politischen Kommentatoren fällt es äußerst schwer, über den wahrscheinlichen Ausgang des zweiten Wahlgangs Vorhersagen zu treffen: Auf einem politischen Terrain, wo man vergeblich nach Vertrauen oder Gerechtigkeit sucht, ist alles möglich.

Worauf können wir noch hoffen? Wie der amerikanische Forscher der postsowjetischen Politik und der sozialen Bewegungen David Ost schreibt, existieren Zorn, Solidarität und Demokratie Seite an Seite. Demokratie wird seiner Ansicht nach dort geboren, wo die Zornigen, welche von Macht und Reichtum abgeriegelt sind, sich solidarisch gegenüber einander zeigen und das für sich beanspruchen, was sie auch verdienen. Die georgische politische Maschinerie, die sich taub für die gerechten Forderungen der Bevölkerung zeigt, produziert tonnenweise Zorn. Dieser Zorn liegt auf den Straßen Georgiens umher.

Man kann schon jetzt mit Sicherheit sagen, dass das Ende der Präsidentschaftswahlen – unabhängig vom Ergebnis – den Beginn eines erhitzten politischen Prozesses markieren wird. Wem gelingt es, den Zorn zu organisieren? Das ist jetzt die kritische Frage. Nicht weniger wichtig ist eine andere: Wird es dem georgischen Volk gelingen, den Zorn im Namen der demokratischen Solidarität zu organisieren? Die Antworten auf diese beiden Fragen werden die unmittelbare Zukunft Georgiens maßgeblich bestimmen. Wir sollten daran denken, dass die Hoffnungslosigkeit der georgischen Bevölkerung, das schelmenhafte Wesen der politischen Klasse, der fragmentarische Charakter der Bürgerbewegungen sowie die Schwäche der Gewerkschaften alle möglichen Szenarios zulässt – selbst die schlimmsten.

Wir sollten daran denken. Doch für das erwünschte Szenario müssen wir kämpfen.