Ungarn: Was sagt uns der Fall Safarow über das heutige Ungarn?

Viktor Orbán, Premierminister von Ungarn, im März 2012

Kristóf Szombati

Am 19. Februar 2004 nahm Ramil Safarow, ein Leutnant der aserbaidschanischen Armee, eine Axt, um Gurgen Margarjan zu ermorden, einen Leutnant der armenischen Armee. Die Tat spielte sich in Budapest ab, wo die beiden Offiziere an einem Englisch-Kurs der NATO teilnahmen. Wie sich herausstellte, ist Safarow ein Flüchtling aus Berg-Karabach, wo es von 1988 bis 1994 zu einem blutigen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan gekommen war. Während des Gerichtsprozesses behauptete Safarow, er habe diese abscheuliche Tat begangen, weil Margarjan die aserbaidschanische Flagge entehrt habe (eine Behauptung, die nicht durch Beweise oder Zeugen gestützt wurde) und weil „wir [Aserbaidschaner] leiden werden, solange die [Armenier] leben“ [1].

Ein "Muster an Patriotismus"?

Am 13. April 2006 verurteilte das ungarische Gericht Safarow zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, mit der Auflage, dass bis 2036 keine Begnadigung möglich ist. Zur Begründung des Strafmaßes verwies der Richter auf den Vorsatz und auf die Brutalität der Tat, sowie den Umstand, dass Safarow keine Reue gezeigt hatte. Am 22. Februar 2007 bestätigte das Gericht sein Urteil nach einem Berufungsantrag durch den Anwalt Safarows. Während Safarow in seiner Zelle ungarische Literatur ins Aserbaidschanische übersetzte, wurde seine Geschichte von aserbaidschanischen Medien und extremistischen Organisationen aufgegriffen.

Eine dieser Organisationen, die Karabach-Befreiungsorganisation, startete eine Kampagne, um eine Auslieferung Safarows zu erreichen. Aserbaidschanische Offizielle erwiesen sich dieser Kampagne gegenüber als nicht immun, wie beispielsweise die Äußerungen der Menschenrechtsbeauftragten Elmira Sulejmanowa belegen. Sie hat Safarow als „Muster an Patriotismus für die aserbaidschanische Jugend“ gepriesen. [2] Obwohl der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew zunächst Zurückhaltung zeigte, wissen wir aus ungarischen Quellen, dass Aserbaidschan bei der ungarischen Regierung aktiv um eine Auslieferung des Mörders nachsuchte.

Die überraschende Auslieferung Safarows am 31. August 2012 und die umgehende Begnadigung nach seiner Ankunft in Baku, die die internationale Gemeinschaft schockierten und die armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen schwer belasteten, hat nicht nur im Ausland eine Reihe interessanter Fragen aufgeworfen, sondern auch in Ungarn selbst.

Orbáns System der nationalen Zusammenarbeit

Die erste wurde vom Nachrichtenmagazin The Economist  gestellt [3], das das ungarische Vorgehen als überraschend bezeichnete, da ungarische Diplomaten doch in dem Ruf stünden, „in der Regel klug, gewandt und wohlinformiert“ zu sein. Auch ungarische Journalisten rätselten zunächst, doch stellte sich bald heraus, dass das Außenministerium, das sich der Komplexität der armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen grundsätzlich bewusst war, innerhalb der Regierung außen vor gelassen worden war. Seither sind die meisten Beobachter der Ansicht, dass die Entscheidung zur Auslieferung Safarows vom Ministerpräsidenten ganz persönlich getroffen wurde, und dass die Beamten, die unter Orbán in dem neu eingerichteten Staatssekretariat für auswärtige Angelegenheiten und Wirtschaftsbeziehungen im Amt des Ministerpräsidenten arbeiten, die möglichen Folgen einer Auslieferung Safarows vollkommen unterschätzt hatten. Aus dieser Perspektive erscheint die Affäre nur als eines der Symptome – und sei es noch so schmerzhaft folgenreich – der schlecht funktionierenden, weil überzentralisierten Entscheidungsstrukturen unter der Regierung Orbán.

Der Fall verweist aber auch auf eine befremdlichere Facette in Orbáns „System der nationalen Zusammenarbeit“. Obwohl Péter Szijjártó, Staatssekretär für Auswärtiges und Außenwirtschaft im Amt des Ministerpräsidenten, „der Öffentlichkeit in mehreren Radio- und Fernsehinterviews mitgeteilt hat, dass die Überstellung in allen Aspekten im Einklang mit dem Strassburger Übereinkommen [über die Überstellung verurteilter Personen] von 1983 erfolgte und ein transparenter Vorgang war” sowie „jeden Vorwurf zurückwies, dass der Fall durch die energiewirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ungarn und Aserbaidschan beeinflusst sei”, fällt es in der Tat schwer, in der Freilassung Safarows etwas anderes zu sehen als den Versuch, mit einem rohstoffreichen Land, das auf großen Geldreserven sitzt, einen politischen Deal zu schließen.

Ein am 15. August vom stellvertretenden Justizmninister Aserbaidschans unterzeichnetes Schreiben, das nach Darstellung der ungarischen Regierung Garantien enthielt, dass Safarow nicht amnestiert werde, besagt in Wirklichkeit, dass Aserbaidschan nie versprochen hatte, den Mann hinter Gittern zu behalten. Fachleute für Völkerrecht und auswärtige Beziehungen meinten gegenüber den Medien, dass das ungarische Justizministerium, falls es wirklich Garantien hätte haben wollen, um die Klarstellung zur Einhaltung des Straßburger Übereinkommens durch Aserbaidschan hätte bitten können.[4]  Es gab jedoch keine offizielle Antwort auf das aserbaidschanische Schreiben. Wenn die ungarische Seite nun still hielt, dann höchstwahrscheinlich dehalb, weil der ungarische Justizminister (und der Ministerpräsident selbst) sehr wohl wussten, dass Safarow nach seiner Rückkehr nach Aserbaidschan freikommen würde.

Unorthodoxe Maßnahmen zur Sicherung der Wirtschaftsinteressen

Es wäre nicht das erste Mal, dass Orbán, der kaum eine Gelegenheit auslässt, das ungarische Engagement beim Schmieden neuer „europäischer Partnerschaften“ herauszustellen, „unorthodoxe Maßnahmen“ einsetzt, um es einem autokratischen Regime schmackhaft zu machen, seine Märkte für ungarische Firmen zu öffnen, in Ungarn zu investieren oder Staatsanleihen zu kaufen. Es sei daran erinnert, dass die ungarische Einwanderungsbehörde während des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten in Budapest im vergangenen Juni alle legal in Ungarn lebenden tibetischen Flüchtlinge vorlud, um „die Daten zu überprüfen“. Die Polizei hinderte derweil Aktivisten mit tibetischen Flaggen und Bannern der Falung Gong Bewegung an einer Demonstration. [5]

Dies wie auch die Auslieferung Safarows zeigt, dass Ungarns derzeitige Regierung bei der Sicherung ihrer Wirtschaftsinteressen zu vielem bereit ist – wenn nötig auch im Widerspruch zu fundamentalen Menschenrechten. Wie Kommentatoren betont haben, könnte Orbáns primitiver Ansatz womöglich nicht einmal dieses Ziel erreichen, da Ungarn – ein kleines Land, das in den letzten zwei Jahrzehnten unfähig war, einen geraden Kurs zu steuern – China, Aserbaidschan und den anderen vom Ministerpräsidenten gepriesenen Ländern kaum etwas zu bieten hat. So kam es dann, dass SOFAZ, der Staatliche Öl-Fonds Aserbaidschans, am 3. September eine Erklärung veröffentlichte, der zufolge „SOFAZ nicht beabsichtigt, in Ungarn in verzinsliche Wertpapiere oder andere Finanzinstrumente zu investieren“. So könnte die Regierung, in Anlehnung an eine ungarische Redewendung, letztendlich zwischen zwei Pferde fallen.

Ungarns Pfauentanz

Die bisherige Unfähigkeit des Ministerpräsidenten, etwas Substantielles aus den geliebten „europäischen Partnerschaften“ zu machen, könnte, wie es ein wohlinformierter Blogger meinte, die Regierung Orbán, die verzweifelt nach externen  Quellen zur Bedienung der wachsenden Schulden sucht, tatsächlich dazu zwingen, ihren Kurs zu wechseln und sich an den Verhandlungstisch mit dem „alten, klapprigen und müden Europa“ zurückzukehren. Einem Europa, „das unfähig ist, seine eigenen Probleme zu bewältigen, aber für Ungarn viel Geld auf den Tisch legt“.[6]  Am 3. September, dem gleichen Tag, an dem SOFAZ die erwähnte Erklärung veröffentlichte, sprach Viktor Orbán überraschend von einer Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der EU/IWF-Expertengruppe. Er schob seine früheren Erklärungen beiseite und sagte, dass „jetzt Ungarn am Zug ist“. Er brachte darüber hinaus seine feste Überzeugung zum Ausdruck, dass ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen in Reichweite sei. Dies könnte natürlich nur eine weitere Figur im „Pfauentanz“ [7]  sein, doch wird die Zeit langsam knapp. Ohne zusätzliche Hilfe von der EU wird Ungarn letztendlich zusammenbrechen – und die Märkte wissen das.

Innenpolitisch ist nun die zentrale Frage, ob die Opposition in der Lage sein wird, aus diesen schweren Fehlern Kapital zu schlagen, der Öffentlichkeit zu erklären, was sie an dem neuen Regime Orbáns für zutiefst falsch hält und was sie anders machen würde. Obwohl die linken Oppositionsparteien alle etwas zum Fall Safarow zu sagen wussten, so vermochte es keine von ihnen, eine starke Botschaft zu formulieren, die in der Gesellschaft nachhaltig wirkt. Auch die Demonstration vom 4. September, die von der Bewegung „Eine Million für die ungarische Pressefreiheit“ organisiert wurde, war mehr ein Fehlschlag als ein Erfolg. Sie erschien wegen der zahlreichen Transparente, die Armenien um Vergebung für Ungarn baten, eher als proarmenische Kundgebung, als dass sie die Protestenergien gegen den offensichtlichen Dilettantismus der Machthabenden richtete. Die relativ geringe Zahl der Demonstranten (rund 2.000) zeigte zudem, dass die Ungarn gegen Skandale recht immun geworden sind. Mit anderen Worten: Wenn Orbán auch nicht unbeschädigt aus der Affäre herauskommen dürfte, so wird es wesentlich mehr als eine internationale Kontroverse brauchen, um ihn taumeln zu lassen.

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Kristóf Szombati  – Soziologe und Mitbegründer der Ungarischen Grünen Partei (LMP). Er arbeitet gegenwärtig für das Prager Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Artikel wurde von Hartmut Schröder übersetzt.

Anmerkungen

 

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