#ElectricYerevan: Ein kleiner Fortschritt, kein großer Maidan

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Dies ist nicht Maidan, dies ist Marschall Bagramjan!“

Am 19. Juni begannen Proteste gegen erhöhte Elektrizitätspreise in Eriwan. Die Bewegung, die inzwischen verebbt ist und mit der Auflösung der Barrikaden am 6. Juli vorerst endete, bekam zwischenzeitlich großen Zulauf und kann als Schritt in Richtung Stärkung der armenischen Zivilgesellschaft gesehen werden. Gleichzeitig sagte sowohl die russische als auch die westliche Berichterstattung weniger über den Charakter der Demonstrationen als über die generelle Ausrichtung der Ost-West-Beziehungen aus.

Nach der Ankündigung der armenischen Regierung, die Strompreise ab August um 16 Prozent zu erhöhen, formierte sich im Land eine Protestbewegung, die mit der Marschall-Bagramjan-Avenue im Herzen der Hauptstadt einen zentralen Ort besetzte und mit #ElectricYerevan auch schnell ihren twitterkonformen Slogan fand. Nicht nur in Eriwan, auch in anderen Städten, forderten die Menschen eine Rücknahme der Preiserhöhung, aber auch generell ein Ende der Bereicherung politischer und wirtschaftlicher Eliten und echte Mitbestimmung der Bevölkerung, was im zweiten Slogan der Bewegung, „No to Plunder“, zum Ausdruck kam. Russische Medien witterten hier schnell Parallelen zur ukrainischen Maidan-Bewegung und sahen Interessen westlicher Mächte im Spiel. Westliche Medien dagegen nahmen gerne die romantisierenden Bilder von vor den Wasserwerfern stehenden triefenden Protestanten und Protestantinnen und straßenfegenden Demonstrierenden auf, um selbst den Beginn einer neuen „farbigen Revolution“ heraufzubeschwören. Die Protestierenden selbst bemühten sich, diese Fremdzuschreibungen zurückzuweisen und ihre Unabhängigkeit zu betonen.

Die Ereignisse rund um #ElectricYerevan lassen sich in eine Reihe von Protestbewegungen der letzten Jahre einordnen. So  forderte die Maschtoz-Bewegung 2012 erfolgreich den Stopp eines Bauprojekts auf einem öffentlichen Platz der Hauptstadt. 2014 folgten Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Den Protestwellen war nicht nur ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien und Organisationen gemein. Sie teilten auch ihre Beschränkung auf eine politische Forderung und ihre Zusammensetzung aus vor allem jungen Aktivisten und Aktivistinnen, denen eine Mobilisierung breiterer Bevölkerungsschichten erst mal nicht gelang. Obwohl sie aus einer Unzufriedenheit mit dem politischen System Armeniens und dessen Vertretern erwuchsen, vor allem aus der Art, wie Entscheidungen ohne Einbeziehung der Betroffenen getroffen werden, blieben die Demonstrationen damals bei ihrer jeweiligen Forderung. Nachdem die Regierung diesen in beiden Fällen entgegenkam, verebbte der Protest schnell.

Die gegenwärtige Bewegung betonte ihre politische Unabhängigkeit, sie bestand aus überwiegend jungen Menschen, und sie beschränkte sich zu Anfang nur auf eine Forderung: die Rücknahme der angekündigten Tariferhöhungen. Sie ist somit ein Zeichen für die immer selbstbewusster werdende Zivilgesellschaft in Armenien, für die Unzufriedenheit vor allem der jungen Generation und für den Ruf nach einer Veränderung der politischen Kultur im Land.

Und doch war diesmal einiges anders. Als am Morgen des 23. Juni, am vierten Tag der Proteste, die Auflösung eines Sitzstreiks in einem Wasserwerfer-Einsatz, Rangeleien und über zweihundert Festnahmen endete, hatte #ElectricYerevan plötzlich eine weltweite mediale Aufmerksamkeit. Die Bilder von jungen Männern, die den Polizisten im Wasserwerfer-Strahl den Mittelfinger entgegenstrecken und den jungen Frauen, die den Polizisten Blumen überreichen wollen, mobilisierten nicht nur viele weitere Armenier und Armenierinnen und ließen die Proteste damit zu einer Massenbewegung anschwellen, sie wurden auch von ausländischen Medien reproduziert, die damit das Bild einer aufflammenden Revolution zeichneten.

Besonders heftig wurde dieses Maidan-Bild von russischen Medien und russischsprachigen Social-Media-Nutzern selbst verbreitet. Die Rede war von antirussischen Protesten, die aus dem Ausland gesteuert würden, und von CIA-Agenten im Land. Auf westlicher Seite machte die Tatsache, dass der armenische Energieversorger Electric Networks of Armenia dem russischen Konzern Inter-RAO (ОАО Интер РАО ЕЭС) gehört und es damit, wenn auch indirekt, um die ökonomische wie auch politische Abhängigkeit des Landes von Russland geht, den Vergleich mit der Ukraine schon mehr als einfach.

Die Protestierenden selbst stritten diese Parallelen zum Maidan vehement ab und betonten, ihnen gehe es um die Elektrizitätspreise und sonst nichts. Gleichzeitig machte man sich über die Versuche von russischer Seite, die Proteste zu diskreditieren, lustig. Doch ein wenig wandelte sich die russische Beurteilung der Proteste auch in eine self-fulfilling prophecy: Obgleich offiziell antirussische Stimmungen abgestritten wurden und es diesbezüglich auch keine Forderungen gab, wuchs durch diese Art der Berichterstattung auch die Wut auf die russische Propagandamaschinerie. Gleichzeitig war man auch genervt von den westlichen Medien und der Notwendigkeit, ihnen gegenüber ständig wiederholen zu müssen, dass es sich hier eben nicht um einen zweiten Maidan handelte.

Bei dieser Einschätzung völlig übersehen wurde allerdings die Tatsache des Beitritts Armeniens zur von Russland initiierten Zollunion im Jahr 2013. Als das Land damals noch mitten in Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU stand, überraschte Präsident Sersch Sargsjan nicht nur die EU-Verhandlungspartner, sondern auch die armenische Öffentlichkeit, als er während eines Staatsbesuchs in Moskau verkündete, dass Armenien nun dem Wirtschaftsbündnis beitrete, das sich inzwischen zur Eurasischen Wirtschaftsunion gewandelt hat. Hätte man sich in den internationalen Medien bei der Konstruktion eines antirussischen Bildes der Proteste ernsthaft mit der kleinsten Südkaukasusrepublik auseinandergesetzt, wäre dies wohl nicht aus dem Blickfeld geblieben. Interessant ist nämlich, dass 2013 Protest und gar politische Reaktion, auch aus dem oppositionellen Lager fast komplett ausgeblieben war. Dagegen führte der Euromaidan-Protest in Kiew inzwischen zur Krim-Annexion, einem bewaffneten Konflikt und der schwersten Ost-West-Konfrontation in Europa seit Jahrzehnten.

So sagt uns die mediale Berichterstattung letztlich vielleicht mehr über die Haltung und das (Des-)Interesse der deutschen und europäischen Öffentlichkeit als über den Standpunkt der armenischen Demonstranten. Durch die neue Ost-West-Konfrontation wird fast jedes Ereignis im osteuropäischen und postsowjetischen Raum in ein strenges Raster eingeordnet: sind die nun prowestlich oder prorussisch, handelt es sich hier um westfinanzierte Faschisten oder um Agenten des russischen Imperialismus, kurz: ist das jetzt gut oder böse? Die #ElectricYerevan-Aktivisten haben es geschafft, sich vor keinen Karren spannen zu lassen. Ihr Fokus war innenpolitisch, nicht geopolitisch.

Einen Fortschritt für die armenische Zivilgesellschaft bedeuten die Proteste jetzt schon: Zwischenzeitlich hatten sich sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angeschlossen und sie von einer reinen Jugendbewegung in eine zivilgesellschaftliche Massenbewegung verwandelt. Auf dem Höhepunkt der Demonstrationen wurden Diskussionsrunden organisiert, in denen sich die Menschen über ihre Sicht der Dinge in Armenien austauschten. Vertreter und Vertreterinnen dieser Diskussionsrunden bildeten eine Art Generalversammlung, die zu einem offiziellen Organ der Bewegung wurde. Außerdem hatten sich mehrere Parlamentsabgeordnete mit den Protestierenden solidarisiert und sich zum Zeitpunkt einer drohenden Räumung zusammen mit Prominenten und Priestern als „Schutzschild“ zwischen Demonstrierende und Polizei gestellt. Die Bewegung hatte neben der Rücknahme der Strompreiserhöhung auch zwei weitere Forderungen aufgestellt: die Revision der vorausgegangenen Tariferhöhungen und die Bestrafung der Polizisten, die am Morgen des 23. Juni Gewalt gegen Protestierende und Journalisten angewendet haben.

Die Regierung hat die Erhöhung der Strompreise zunächst ausgesetzt und eine Überprüfung angeordnet. Damit hat sie sich faktisch Zeit erkauft, ohne substantielle Zusagen zu machen. Dieses Kalkül ging inzwischen auf: Die Bewegung verlor nach und nach an Zulauf, so dass es für die Polizei am Ende ein Leichtes war, die Barrikaden zu räumen.