Georgien im Prisma der Gesellschaftsverträge

In den 31 Jahren der georgischen Unabhängigkeit wurde das Land von 3 Präsidenten: Swiad Gamsachurdia, Eduard Schewardnadse und Micheil Saakaschwili und einem informellen Führer: Bidsina Iwanischwili regiert. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es das formelle und informelle Führungsregime aus dem Blickwinkel des vertikalen Gesellschaftsvertrags zu beschreiben. Als vertikalen Gesellschaftsvertrag betrachte ich eine informelle Vereinbarung zwischen Regierenden und Regierten, die jenseits von bzw. parallel zu der Verfassungsordnung besteht und der sich vom horizontalen Gesellschaftsvertrag unterscheidet. Meine These ist, dass in Georgien eine Reihe von vertikalen Gesellschaftsverträgen den gescheiterten Gründungsprozess der zweiten georgischen Republik ersetz haben. Ich stelle fest, dass es nach dem Zerfall der UdSSR in Georgien nicht gelungen ist, das von der UdSSR geerbte informelle, parallel zur Verfassung existierende Machtgefüge zu demontieren und ein neues formelles zu begründen. Das Ende der Reihe an vertikalen Gesellschaftsverträgen – so meine These – ist nur durch einen horizontalen Gesellschaftsvertrag möglich.

Chancellery of the Government of Georgia

Was ist ein Gesellschaftsvertrag?

Die sowjetische und postsowjetische Geschichte durch die Theorie des Gesellschaftsvertrages zu erklären ist kein wissenschaftliches Neuland.[1] Die Theorie des Gesellschaftsvertrages in diesem Kontext meint in der Regel einen vertikalen Gesellschaftsvertrag, d. h. ein Vertrag zwischen Regierenden und Regierten.[2] Dieser Theorie zufolge geben die Machthaber dem „Volk“ in der Regel verhältnismäßigen Wohlstand. „Volk“ meint die Wählerinnen und Wähler, die keinen direkten Einfluss auf die Politik und Wirtschaft eines Landes haben, aber aktiv (durch die Wahlen) oder passiv (durch ausbleibende Proteste) die Machthaber legitimieren oder ihnen zumindest Stabilität verleihen.[3] Diese Annahme hat ihre theoretischen Schwachstellen. Die Vermutung, dass das Volk bereit ist, im Austausch für den verhältnismäßigen Wohlstand politische Unterwerfung zu erdulden, impliziert, dass die schwache oder starke politische Legitimation eindeutig wirtschaftlich determiniert ist und keine andren, z. B. symbolisch-politischen Gründe hat. Für Georgien ist diese Annahme ungerechtfertigt. Nichtsdestotrotz dürfen wir die Gesellschaftsvertragstheorie als einen Beschreibungsrahmen für das postsowjetische Georgien verwenden, jedoch mit einem Vorbehalt. Neben dem vertikalen Gesellschaftsvertrag kennt die Theorie der Gesellschaftsverträge auch einen horizontalen Gesellschaftsvertrag, einen Vertrag nicht zwischen Regierenden und Regierten, sondern unter Menschen oder Menschengruppen darüber, wie ein Land zu sein hat und auf welchen Gesetzen es gegründet sein soll.[4] Gerade das Ausbleiben des horizontalen Gesellschaftsvertrags macht die vertikalen Gesellschaftsverträge möglich und sogar notwendig.

Ich nehme Bezug auf Hannah Arendts „Über die Revolution“, wenn ich von der These ausgehe, dass Georgien, trotz der faktisch vorhandenen Verfassung kein konstituierter Staat ist, gerade, weil es in den mehr als 30 Jahren georgischer Unabhängigkeit nicht zu einem horizontalen Gesellschaftsvertrag gekommen ist.

In ihrem Buch „Über die Revolution“ definiert Hannah Arnedt das Ziel der Revolution als Begründung der Freiheit (in Form der Republik).[5] Der Zerfall der Sowjetunion kann durchaus als ein der Revolution äquivalentes Ereignis angesehen werden, zumindest im Hinblick auf die radikale Veränderung der Rechts- und Wirtschaftsordnung und dem Entstehen neuer Staaten. Der Transformationsprozess ehemaliger Sowjetrepubliken, der mit dem Zerfall der Sowjetunion begann, dauert (mit Ausnahme der baltischen Staaten) bis heute an. Spannen wir die Parallele zur Revolution in der Darstellung von Hannah Arendt weiter, so befinden sich die postsowjetischen Staaten im Zustand der permanenten Transformation, gerade weil sie nicht in der Lage sind sich zu konstituieren im Sinne der Schaffung eines rechtlichen Rahmens der Machtverteilung und Machtübergabe, statt die Macht abseits von rechtlichen Rahmen durch informelle Absprachen auszuüben und weiterzugeben.[6] Einerseits ist die Unfähigkeit sich zu konstituieren (gleichbedeutend mit der Unfähigkeit einen horizontalen Gesellschaftsvertrag zu schließen), ein Grund für den permanenten Transformationsprozess. Andererseits, werden gerade durch die Unfähigkeit zum Konstituieren die formalisierten, verfassungsmäßigen (Macht)Verhältnisse durch informelle Verbindungsnetze ersetzt. Der Grad der Diskrepanz zwischen dem formal existierenden Grundgesetz und der tatsächlichen informellen Grundordnung kann zwar geändert werden, aber das postsowjetische Georgien lässt sich gerade dadurch charakterisieren, dass diese Diskrepanz für das Land grundlegend ist. Wir können die vertikalen Gesellschaftsverträge als eine Form der verfassungswidrigen, informellen Verhältnisse betrachten.

Die geerbte Machtstruktur

Weder vor dem Zerfall der Sowjetunion noch danach hat es in Georgien eine öffentlich geführte Diskussion darüber gegeben, welches Land das postsowjetische Georgien hätte sein können. Das politische Denken der nationalen Bewegung fing nicht mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens an, sondern endete damit.[7] Die nationale Bewegung, die seit 1989 de facto und seit 1990 auch de jure Georgien regiert war nicht in der Lage eine klare Zukunftsvision zu formulieren, und konnte ebenso wenig eine Diskussion über Form und Inhalt des zukünftigen  postsowjetischen Georgiens führen. Das Unvermögen drückte sich weiterhin darin aus, dass weder in der Übergangsperiode noch danach klargestellt wurde, was Georgien für ein Land sei: Gab es eine Rechtsnachfolge und Kontinuität zur Georgischen Demokratischen Republik (GDR 1918-1921) oder war Georgien ein völlig neuer, nach dem Zerfall der UdSSR entstandener Staat.[8]

Die Verfassung der GDR war das Ergebnis langer und intensiver Debatten. Noe Schordania, der erste Regierungschef Georgiens, verglich die Verfassung mit einem Kleid, das dem neuen politischen Körper passen sollte. Die damalige Verfassung war nicht nur im Hinblick auf Freiheit und Gleichberechtigung fortschrittlich, sondern begründete eine Machtarchitektur, die dem Parlament und den kommunalen Selbstverwaltungen eine tragende Bedeutung zumaß und der Exekutive nicht erlaubte, die Macht an sich zu reißen.

Die zweite, heutige Republik war nur auf dem Papier ein neuer, nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandener Staat, denn nicht nur die sowjetische bzw. sowjetgeorgische Verfassung bestand in ihm fort (mit Ausnahme der meist symbolischen Korrekturen), sondern auch das sowjetische Machtgefüge blieb unverändert: ein Machtgefüge –  Struktur und Verteilung der Macht – das bis heute nicht angetastet wurde. Bedauerlicherweise wurde dieses Machgefüge nicht nur nicht geändert, eine Veränderung wurde nicht einmal zur Diskussion gestellt. Die Rajkomsekrätere (Kreisgebietsparteiführer) wurden zwar durch Präfekten ersetzt, aber dadurch änderte sich nur das Aushängeschild, keineswegs aber der das Prinzip der Machtstruktur. Der Ausdruck „Fassadendemokratie“ in Georgien beschreibt gerade die Vererbung des sowjetischen Machtgefüges ungeachtet seiner Verkleidung durch demokratische Institute, die jedoch über keine wirkliche Macht verfügten.

Trotz zahlreichen Reformen, drei Verfassungen, dem Übergang von einer Präsidial- zur parlamentarischen Republik, ist die Machtstruktur in Georgien dennoch unverändert geblieben: Es ist eine Ein-Partei-Autokratie (mit stärker oder schwächer ausgeprägten formellen oder informellen Führungspositionen) die alle Gewalten (Legislative, Judikative und Exekutive) sowie Medien und Wirtschaft kontrolliert. Die Attrappe der Demokratie ist zwar da, aber ihr fehlt der Inhalt: die Souveränität des Volkes. Die Wähler*innen wählen nicht die politische Partei, die ihre Interessen vertritt, sie legitimieren den Machthaber. Die Wähler*innen sind keine Subjekte der Politik, sie sind Führungsobjekte. Ihre Beteiligung am politischen Prozess ist auf das rituelle Minimum reduziert.

Diese Machtstruktur wird getragen und gestärkt vom zentralistischen Territorialaufbau: Die georgische Bevölkerung wird aus dem politischen Leben weitestgehend ausgeschlossen. Dies wird jenseits der Hauptstadt nochmals deutlicher. Autokratien tendieren zum vertikalen Zentralismus, der die Führung erleichtert.

Gerade weil im postsowjetischen Georgien die Konstituierung durch den horizontalen Gesellschaftsvertrag nicht gelang, können wir die postsowjetische Geschichte Georgiens als eine Serie von mehr oder weniger erfolgreichen vertikalen Gesellschaftsverträgen begreifen.

Gamsachurdias Gesellschaftsvertrag: die Unabhängigkeit

Der erste vertikale Gesellschaftsvertrag kann dem ersten Präsidenten Georgiens Swiad Gamsachurdia zugeschrieben werden. Sein Inhalt war die staatliche Unabhängigkeit Georgiens. Dies war ein selbstgenügsamer Preis, der nichts beinhaltet außer sich selbst. Diese Unabhängigkeit stellte eher ein Ende der sowjetischen Unfreiheit als den Beginn von etwas Neuem dar. „Der Wille des georgischen Volkes“, der im Referendum vom 31. März 1990 Ausdruck fand, ist zwar erfüllt worden, das georgische Volk ist zwar de jure ein Souverän geworden, aber seine Souveränität ist nicht in politische und wirtschaftliche Rechte übersetzt worden. Von Seiten des Volkes war die Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag in der Grundstimmung des ersten Unabhängigkeitsjahrs erkennbar, „wir wollen unabhängig sein, auch wenn wir hungern müssen“. Eine Diskussion über die zukünftige Ordnung des Landes blieb aus. Stattdessen konnten sowohl der erste Präsident Georgiens als auch seine Opposition nicht aus der Polarisierungsspirale entkommen. Gamsachurdias vielleicht größter Fehler war, dass sein Gesellschaftsvertrag nur ethnische Georgier*innen umschloss. Gamsachurdias Georgien war, in erster Linie, ein Staat für die ethnischen Georgier*innen. Darin waren der Platz und die Zukunft der ethnischen Minderheiten nicht sicher, um nicht zu sagen bedroht. Gamsachurdias Regierung, wie auch alle nachfolgenden Staats- und Regierungschefs, haben versäumt den ethnischen Minderheiten ein Staatsmodell anzubieten, welches ihnen gleiche Bedingungen garantiert hätte. Auch wenn sowohl der populäre als auch Teile des politischen und akademischen Diskurses für die Konflikte in Abchasien und in der Zchinwaliregion in erster Linie Russland verantwortlich machen, muss betont werden, dass die ethnischen Minderheiten in Georgien nie ein Teil des Gesellschaftsvertrags waren.

Die allseitige Polarisierung, an der sowohl Gamsachurdias Regierung, die Opposition sowie die ethnischen Minderheiten beteiligt waren, hat gezeigt, dass die Unabhängigkeit allein nicht ausreichte. Nach der Unabhängigkeit hätte die Macht geteilt werden müssen, sowohl innerhalb des politischen Spektrums zwischen der Regierung und der Opposition als auch im Hinblick auf die territoriale und administrative Gliederung des Landes.

Die damalige georgische Regierung, wie auch ihre Nachfolger-Regierungen wollten die Macht nicht teilen und erhoben Anspruch auf die gesamte Macht, also frei nach dem sowjetischen Modell: die Regierende Partei hob faktisch die Gewaltenteilung auf und bestimmte aus dem Zentrum das Geschehen bis in die Kommunen hinein. Die Opposition wurde zum Staatsfeind erklärt. Die territorialen Verwaltungseinheiten hatten keine eigene Macht. Sie waren Zweigstellen der Zentralregierung (mit Ausnahme der Autonom-Republik Adscharien bis 2005, die heute, trotz des autonomen Status, genauso aus dem Zentrum regiert wird wie andere georgische Territorialeinheiten).

Den radikalsten Ausdruck fand die fehlgeschlagene postsowjetische Konstituierung Georgiens in den Bürgerkriegen in Tbilisi, der Zchinwaliregion und Abchasien zwischen 1991 und 1993. Da wo es keine gesetzlichen Mechanismen für die Teilung der Macht gab, wurde sie mit und durch Gewalt geteilt. Die staatlichen Institutionen brachen nach dem Staatsstreich 1991-1993 zusammen, politische und rechtliche Ordnung versagten, die Wirtschaft kollabierte. In diesen Kriegen verlor Georgien zwei Autonomien (Abchasien und die Zchinwaliregion) und über 60 % seiner Wirtschaftskraft.

Schewardnadses Gesellschaftsvertrag: Stabilität und internationale Anerkennung

Den nächsten Versuch, einen vertikalen Gesellschaftsvertrag zu schließen, unternahm der zweite Präsident Georgiens: Eduard Schewardnadse. Obwohl Schewardnadse eine demokratische Fassade in Georgien aufbaute, stärkte er faktisch die aus der Sowjetunion geerbte Machtstruktur der Ein-Partei-Autokratie, etwa durch die Erhöhung der Wahlhürde auf 7 %, womit er die kleineren Oppositionsparteien effektiv ins Abseits stellte oder durch die Einführung der Regionalgouverneure, wodurch er die zentrale Macht über die Köpfe der Kreisverwaltungen hinweg stärkte. Wenn Gamsachurdias Versprechen die Unabhängigkeit war, so versprach Schewardnadse Stabilität und internationale Anerkennung.

Die wichtigste formelle Errungenschaft der Regierung Schewardnadse war die Verfassung von 1995 und die Einführung der stabilen nationalen Währung (neben der internationalen Anerkennung Georgiens). Jedoch diente die Verfassung von 1995 eher der Konsolidierung der Macht des Präsidenten und der regierenden Partei als dem Widerspiegeln unterschiedlicher Interessen der heterogenen Bevölkerungsgruppen.[9]

Im Hinblick auf die Teilung der Macht ging Schewardnadse den Weg den Gamsachurdia nicht einschlagen konnte oder wollte. Wenn die Theorie des vertikalen Gesellschaftsvertrages eine Übereinkunft zwischen den Regierenden und den Regierten vorsieht, wurde der Gesellschaftsvertrag in Georgien dahingehend umgestaltet, dass es ein Vertrag nicht mit dem Volk war, sondern mit wenigen einflussreichen Gruppen: mit der alten sowjetischen Intelligentsia, der ehemaligen Parteinomenklatur, den zu Geschäftsmännern mutierten ehemaligen Direktoren der sowjetischen Staatsunternehmen, den legalisierten Bossen der Schattenwirtschaft sowie mit dem Patriarchat der Georgischen orthodoxen Kirche. Diese Gruppen vermittelten in unterschiedlichem Maße zwischen der Regierung und dem Volk. Im Hinblick auf das symbolische Kapital, tauschten Intelligentsia und Patriarchat die Plätze. Das symbolische Kapital der Intelligentsia nahm ab, während das des Patriarchats rapide zunahm. Die Wirtschaft war fast komplett von der Regierung abhängig und konnte nicht unabhängig von ihr agieren.

Schewardnadse ebnete dem beispiellosen Machtzuwachs der Kirche den Weg, vertreten durch das Patriarchat. Zunächst wurde in der Verfassung von 1995 die Rolle der Georgischen Orthodoxen Kirche (GOK) besonders hervorgehoben, 2002 schloss der Staat mit der GOK den Verfassungsvertrag, der die Kirche faktisch zum Religionsmonopolisten in Georgien erhob und ihr beinah uneingeschränkte Möglichkeiten für die Akkumulation von symbolischem und finanziellem Kapital eröffnete.

Seinen Teil des Gesellschaftsvertrages konnte Schewardnadse nur teilweise erfüllen. Georgien wurde zwar international anerkannt, und die Integration in den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat begann. Die von Schewardnadse gestellten außenpolitischen Weichen stehen nach wie vor, wenn auch zunehmend nur äußerlich. Doch Schewardnadse scheiterte bei der Lösung innenpolitischer Probleme. Der Staat stellte zwar das Gewaltmonopol wieder her, aber die hohe Kriminalität war nicht zu bezwingen, und die Polizeiwillkür richtete sich gegen die Bürger*innen. Die Wirtschaftskrise 1998 unterbrach das Wirtschaftswachstum erneut. Gegen Ende der zweiten Präsidentschaft Schewardnadses war das Land durch totale Korruption und Stagnation gezeichnet.[10]

Saakaschwilis Gesellschaftsvertrag: forcierte Modernisierung und Wiederherstellung der territorialen Integrität

Der jüngere und demokratische Flügel der „Bürgerunion“ (Schewardnadses Einheitspartei), aus dem die spätere Partei Saakaschwilis, die „Vereinigte Nationale Bewegung“ hervorging, versprach in erster Linie die Beseitigung der Korruption und die forcierte Modernisierung Georgiens. Zu diesem Ziel wurde ein Katalog mit 10 Schritten zur Unabhängigkeit formuliert. Das Programm der jungen Reformisten umfasste 10 verschiedene Punkte, wie die Wiederherstellung der territorialen Integrität und die Verabschiedung des Gesetzes über die Presse- und Medienfreiheit, das Ende des sowjetischen Regierungssystems und die Auszahlung der ausstehenden Renten, die Konfiszierung des illegal erworbenen Vermögens und mehr Autonomie für die Hochschulen.[11] Von einem Staat, der nicht in der Lage war, Gehälter und Renten auszuzahlen und der tief im Korruptionssumpf steckte, sollte Georgien zu einem fortschrittlichen Staat und Mitglied der NATO und der EU werden.

Wie Schewardnadse, gelang es Saakaschwili nur einen Teil seiner Versprechen umzusetzen. Trotz den erfolgreichen Reformen wie der Bekämpfung der Korruption, der Vereinfachung der Bürgerdienste und der Polizeireform, verpassten die Rosenrevolutionäre die historische Chance der Neugründung Georgiens. Auch sie ließen, trotz der Verfassungsreform, die Machtstruktur unangetastet. Auch Saakaschwilis Reform wurde nicht öffentlich debattiert und hatte nicht das Gemeinwohl zum Ziel, sondern diente der Machtkonsolidierung und dem Machterhalt.[12] Saakaschwili konnte auch den anderen Teil seines Versprechens, die territoriale Integrität Georgiens wiederherzustellen, nicht umsetzen.

Der Gesellschaftsvertrag der Präsidentschaft Saakaschwilis war der konventionellste. Das Modell der „Singapurisierung“ Georgiens, das die Regierung Saakaschwili propagierte, bedeutete den schnellen wirtschaftlichen Fortschritt unter den Bedingungen des mehrjährigen Ein-Partei-Autoritarismus. Die Wähler*innen sollten der Regierung ihr Vertrauen aussprechen, auf ihre politischen und wirtschaftlichen Rechte verzichten und im Gegenzug schnelle Modernisierung und einen verhältnismäßigen Wohlstand bekommen.

Für die anspruchsvollen Infrastrukturreformen brauchte die Regierung Saakaschwili finanzielle Ressourcen, welche die Haushaltsmöglichkeiten überstiegen. Diese Finanzierungslücken versuchte Saakaschwili auf drei Wegen zu stopfen. An erster Stelle stand die Deregulierung, die wirtschaftliche Aktivitäten und insbesondere Investitionen in Georgien maximal erleichtern sollte. Die Verlierer dieser Politik waren Arbeitnehmer*innen und Verbraucher*innen, die nun durch keinen Rechtsmechanismus mehr geschützt waren. Zweitens wurden mit den in Russland tätigen Oligarchen georgischer Abstammung informelle Absprachen getroffen. Drittens wurde, neben den offiziellen Steuersenkungen, die Wirtschaft informell besteuert. Die informelle Besteuerung der Wirtschaft wurde bereits in den ersten Tagen nach der Rosenrevolution praktiziert, jedoch am Anfang unter dem Banner der „Enteignung des illegal beschafften Vermögens“, auch wenn es dafür nie einen genauen rechtlichen Rahmen gab. Der georgische Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsminister in der Schewardnadse-Regierung, Lado Papawa, bezeichnete die Wirtschaftspolitik Saakaschwilis als eine Mischung aus Neoliberalismus und Neobolschewismus wegen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die durch Enteignungen komplementiert wurde.[13]

Die Regierung Saakaschwili setzte den Weg Schewardnadses fort. Auch sie versuchte, mit wichtigen gesellschaftlichen Akteuren – in erster Linie mit dem Patriarchat und der Wirtschaft – Übereinkünfte zu erzielen. Diese Politik schlug fehl. Denn beide kehrten Saakaschwili den Rücken, sobald ein stärkerer Konkurrent auftauchte.

Iwanischwilis Gesellschaftsvertrag: Von der „Wiederherstellung der Würde“ bis zum neuen „Stillstand“.

Die tatsächliche Opposition gegen Saakaschwili wurde Ende der 2000-er und Anfang der 2010-er von zwei Oligarchen, Badri Patarkatsischwili und Bidzina Iwanischwili, organisiert. Das war ein Novum und ein Zeichen, dass nun das Großkapital die Politik zu dominieren vermochte. Es ist kaum vorstellbar, dass die Opposition ohne das Großkapital die Wahlen hätte gewinnen können. Die erste Runde konnte Saakaschwili gegen den Oligarchen Iwanischwili noch gewinnen, auch wenn er zum Rücktritt gezwungen wurde. Die Präsidentschaftswahlen 2007 konnte er noch für sich entscheiden. Bidzina Iwanischwili konnte aus den Fehlern Patarkatsischwilis lernen: er schmiedete eine Koalition, an der sowohl die Wirtschaft als auch das Patriarchat beteiligt war. Mit Versprechungen hat Iwanischwili nicht gespart: Er versprach eine soziale Politik (Iwanischwilis Partei „Georgischer Traum“ behauptete, sozial-demokratisch zu sein und sich darin von der rechts-liberalen „Nationalen Bewegung“ Saakaschwilis zu unterscheiden); Iwanischwili versprach den raschen Wohlstand für alle und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Schaffung neuer Arbeitsstellen. Sein Hauptversprechen jedoch war ideologischer Natur: Iwanischwilis Propagandamaschine gelang es Saakaschwili nicht nur als einen blutrünstigen Tyrannen darzustellen, sondern als einen paradigmatischen Georgien- und Georgierfeind, dessen erklärtes Ziel die Bekämpfung der georgischen Traditionen und des orthodoxen Glaubens war. Die Wähler*innen stimmten der Regierung Iwanischwilis beinahe bedingungslos zu mit einem Vorbehalt: Saakaschwili sollte nie in die georgische Politik zurückkehren können.

Es zeigte sich bald, dass Iwanischwili weder die Sozialpolitik ändern wollte noch den versprochenen Wohlstand zu erreichen in der Lage war. Von dem Versprechen Iwanischwilis blieb nur sein ideologischer Bestandteil.

Das ideologische Paket Iwanischwilis bestand einerseits aus den populistischen Parolen (Volk vs. Eliten), anderseits aus der pseudo-konservativen Ideologie. Pseudo-konservativ insofern, als dass sie weniger auf den Erhalt der tradierten Formen und Werte pochte, sondern auf dem in den 2000-er Jahren insbesondere durch das Patriarchat propagierten ethno-religiösen Bild eines Georgiens beruhte, dessen wesentliche Komponenten aus antiwestlichen Aspekten bestand: Ablehnung der Demokratie, der Menschen- und insbesondere Minderheitenrechte, Misogynie, Homophobie und religiöse und ethnische Xenophobie. Sie fußte auf einer Vorstellung der sozialen Hierarchie, an deren Spitze ein ethnischer Georgier und konfessionell christlich orthodoxer Mann stand. Am 5. Juli 2021 erklärte der Premierminister Gharibaschwili im Zusammenhang mit der geplanten LGBTQ+ Pride, dass die Regierungspartei „Georgischer Traum“ diese oben beschriebene Mehrheit repräsentiere und die Minderheitsrechte weder geschützt noch garantiert werden könnten, wenn sie sich dem Willen der Mehrheit in die Wege stellten.[14] Für einen Teil der Georgier war die symbolische Macht attraktiv, darüber entscheiden zu können wer und wie angezogen durch die Hauptstraßen von Tbilissi marschieren durfte, im Austausch gegen politische und wirtschaftliche Rechte, die nun an das oligarchische Regime abgetreten wurden.

Auch wenn die Regierung Saakaschwili Großunternehmen gesetzgeberisch begünstigte, war sie nicht die Partei der Groß- und Mittelunternehmen bzw. der Oligarchie. Im Gegenteil, sie versuchte die Wirtschaft zu kontrollieren. So änderten sich die Rollen im Regime Iwanischwili: nun droht Georgien ein oligarchischer Staat zu werden, in welchem die Oligarchie durch die eigene Partei „Georgischer Traum“ in Absprache mit dem mächtigsten ideologischen Staatsapparat (dem Patriarchat) den repressiven Staatsapparat kontrolliert.[15] Die Grundlage des Gesellschaftsvertrags nimmt einerseits ab, andererseits wird sie stabiler: für einen Teil der georgischen Wähler*innen scheint die Stagnation, wenn nicht komfortabler, dann doch erträglicher zu werden. Da sie ihnen zwar nichts gibt, aber auch nichts abverlangt, im Gegensatz zu der forcierten Modernisierung Saakaschwilis, die eine Beteiligung, wenn auch ungefragt und ohne Rücksicht auf ihre Interessen zu nehmen, verlangte.

Das Regime Iwanischwili schöpft aus dieser postsowjetischen Version des sowjetischen Stillstands seine Kraft. Sie bildet den Inhalt des erneuerten „Gesellschaftsvertrags“. Die Oligarchie bekommt den Freibrief für die Bereicherung. Sie kontrolliert den Staat durch ihre Partei. Im Gegenzug belastet sie den trägsten Teil der georgischen Wählerinnen und Wähler nicht mit unbequemen Reformen und gibt ihnen das Gefühl eine privilegierte Mehrheit zu sein.

Die Politik der Gesellschaftsverträge, die ein Ausdruck der misslungenen Konstituierung Georgiens nach dem Zerfall der Sowjetunion war, hat das Land in eine immer wachsende Ungleichheit und Polarisierung geführt. Jeder der Gesellschaftsverträge zielte nicht auf die Integration aller, sondern auf den Ausschluss von bestimmten Gruppen ab: zunächst wurden die ethnischen Minderheiten ausgeschlossen, später wurde auch die Mehrheit der georgischen Bevölkerung von der Politik der Gesellschaftsverträge benachteiligt. Es gab nur wenige große Gewinner dieser Politik: die Oligarchie und das Großkapital sowie das Patriarchat, also die Oberschicht der Georgischen Orthodoxen Kirche.

Geht es so weiter, wird die Schere zwischen der hauchdünnen Schicht der Privilegierten und dem Rest des Landes sowie die damit einhergehende Polarisierung größer, bis auf ein für die Existenz des Staates bedrohliches Niveau. Ein Ausweg kann nur eine über dreißig Jahre verspätete Neugründung Georgiens sein. Diese Neugründung, deren Ergebnis eine neue Verfassung Georgiens sein muss, kann nur unter Beteiligung gewählter Vertreter*innen aller Territorialeinheiten und Gesellschaftsgruppen an einem verfassungsgebenden Gremium erfolgen. Die Aufgabe dieses Gremiums muss – unter anderem – die Demontage des strukturellen Erbes der Sowjetunion in Gestalt seiner Machtarchitektur und die Begründung eines neuen, freiheitlichen, sozialen und dezentralisierten Staates werden.

Der Inhalt dieses Artikels liegt in der alleinigen Verantwortung des Autors und kann in keinerlei Weise die Ansichten des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung Tbilissi - Südkaukasus-Region widerspiegeln.

 

[1] Linda J. Cook, The Soviet Social Contract and why it failed. Welfare Policy and Workers’ Politics from Brezhnev to Yeltsin, Harward UP 1993; Sarah Ashwin, “Endless Patience: Explaining Soviet and Post-Soviet Social Stability.” Communist and Post-Communist Studies 31, no. 2 (June 1998): 187–98; Aлександр Азуан, Общественный договор и гражданское общество, Мир России, 2005, Т. 14 N 3, 3-18; Samuel A. Green, Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in Demokratizatsiya, 20.2 (2012) 133-140; Samuel A. Green, From Boom to Bust: Hardship, Mobilization & Russia’s Social Contract, In: Daedalus, 146,2 (2017), 113-127.

[2] Den vertikalen und den horizontalen Gesellschaftsvertrag hat als erster Thomas Hobbes in Leviathan unterschieden. Auf diesen Unterschied baute Hannah Arendt in ihrem Buch On Revolution auf und bezeichnete die beiden Verträge als gegenseitig ausschließend. Hannah Arendt, On Revolution, London 2006, 161.

[3] Z.B. Timothy J. Colton and Henry E. Hale. 2009. “The Putin Vote: Presidential Electorates in a Hybrid Regime.” Slavic Review 68(3): 473-503; Daniel Treisman. 2011. “Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin.” American Journal of Po- litical Science 55(3): 590-609.

[4] Arendt, On Revolution, 161.

[5] Arendt, ebenda 132, 133.

[6] Arendt, ebenda 135.

[7] Lewan Berdsenischwili, Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag, Leipzig 2018. Zaal Andronikashvili und Giorgi Maisuradse, Philologen gegen Philosophen. Georgiens Weg in eine unfreie Freiheit, Osteuropa 7-10, 2015, 231-246.

[8] ნოდარ თოფურიძე, საქართველოს საერთაშორისო სამართლის სუბიექტობა, თბილისი 2015, 224 passim [Nodar Topuridse, Georgien als Rechtssubjekt des internationalen Rechts, Tbilisi 2015].

[9] Gleiches gilt für die späteren Verfassungsänderung. Daher zitiere ich die Analysen der Verfassung 1995 und ihren späteren Änderungen an dieser Stelle: იხ. გიორგი მელაძე, კარლო გოდოლაძე, „კონსტიტუცია ყველასათვისთუმცირერიცხოვან რჩეულთათვის“ - კონსტიტუციის შექმნის პრობლემები საქართველოში, საკონსტიტუციო სამართლის მიმოხილვა VIII, თბილისი 2015, 24-33, [Giorgi Meladse, Karlo Godoladse, „,Verfassung für Alle‘ oder für ,wenige Auserwählte‘“ – Probleme der Verfassungsgebung in Georgien, Überblick des Verfassungsrechts VIII, Tbilisi 2015, 24-33] URL: https://conlaw.iliauni.edu.ge/sakonstitutsio-samarthli-7/ (Letzter Aufruf: 03.10.2021). Siehe auch ვახტანგ ნაცვლიშვილი, დავით ზედელაშვილი, საქართველოს კონსტიტუცია 20 წლის შემდეგ, თბილისი 2016[Wachtang Natswlischwili, Davit Sedelaschwili, Georgische Verfassung. 20 Jahre danach, Tbilisi 2016]; Zur Überarbeitung der Verfassung siehe: Marina Muskhelishvili, Constitutional Changes in Georgia, in: Armineh Arakelian, Ghia Nodia, Constitutional/Political Reform Process in Georgia, Armenia and Azerbaijan: Political Elite and Voices of the People, Tbilisi 2005; Siehe auch ვახუშტი მენაბდე, „საქართველოს კონსტიტუციის გადასინჯვა. რა უზრუნველყოფს უზენაესი კანონის ლეგიტიმურობასკრებულში: გია ნოდია, დავით აფრასიძე, საკონსტიტუციო ცვლილებები საქართველოში. სტატიების კრებული, თბილისი 2013, 116-135; [Wachuschti Menabde, „Die Überarbeitung der georgischen Verfassung. Was garantiert die Legitimität des Grundgesetzes“ in: Ghia Nodia, Davit Aprasidse, Die Verfassungsänderungen in Georgien, Tbilissi, 2013]; დავით ზედელაშვილი, „კონსტიტუციის გადასინჯვა საქართველოში: უმრავლესობის ვნებები და კონსტიტუციური წესრიგიკრებულში: გია ნოდია, დავით აფრასიძე, საკონსტიტუციო ცვლილებები საქართველოში. სტატიების კრებული, თბილისი 2013, 136-178 [Davit Sedelaschwili, Die Überarbeitung der georgischen Verfassung: Die Leiden der Mehrheit und die Verfassungsordnung, in: Ghia Nodia, Davit Aprasidse, Die Verfassungsänderungen in Georgien, Tbilissi, 2013].

[10]Vladimir Papava, Economic Achievements of Postrevolutionary Georgia. Problems of Economic Transition, 56(2) (2013)., pp.51-65.

[11] გიგი თევზაძე, კახა ლომაია, ლევან რამიშვილი, ათი ნაბიჯი თვისუფლებისაკენ, ბროშურაკმარა, იმიტომ რომ მე მიყვარს საქართველო“, თბილისი 2003, [Gigi Tevsadse, Kacha Lomaia, Lewan Ramischwili, „Es reicht, weil ich Georgien Liebe“, Tbilisi 2003]URL: https://el.ge/articles/36949 (ბოლო ნახვა: 03.10.2021).

[12] Siehe Fußnote 9.

[13] Vladimir Papava, Economic Achievements of Postrevolutionary Georgia. Problems of Economic Transition, 56(2) (2013), pp.51-65.

[14] URL: https://www.radiotavisupleba.ge/a/31354085.html (Letztzer Aufruf: 03.10.2021).

[15] Ich verwende den Begriff von Louis Althusser. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010.