Die „Rückkehr nach Europa“ war auch das Leitmotiv der Selbstdarstellung des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse 2018: Georgien kehrt zu seiner historischen Familie zurück, aus der sie durch Russland ganze zwei Jahrhunderte lang herausgerissen war! Diese neue Schilderung spiegelt nur bedingt historische Tatsachen wieder.
Für Georgien war der Gastlandauftritt auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, der größten der Welt, vor allem ein politischer Erfolg. In der noch recht kurzen Geschichte der staatlichen Unabhängigkeit geschah es zum ersten Mal, dass auf einer äußerst prestigeträchtigen internationalen Bühne Georgien nicht durch seine einzelnen Künstler vertreten war, sondern sich als Land präsentierte. Infolgedessen verließ das in Deutschland und ganz Europa nur wenig bekannte Georgien die Interessensphäre der Politologen und Touristen und eroberte auf der Weltkarte – aus der europäischen Perspektive betrachtet – einen Platz als Kulturnation. Dies bedeutet seinerseits eine kulturelle Hochschätzung, deren politisches Gewicht sogar schwerer wiegt als das einer diplomatischen Anerkennung. Während ein Land durch diplomatische Anerkennung als ein Subjekt des internationalen Rechts zu existieren beginnt, bedeutet dessen kulturelle Anerkennung die Feststellung dessen, dass eben dieses Land einen gewissen Wert für die Weltkultur darstellt.
Eine solche Wertschätzung hat für Georgien eine wahrhaft historische Bedeutung. Zu der Zeit, als sich in Europa die ersten Nationalstaaten etablierten, verschwand Georgien von der Weltkarte. Im Lauf des gesamten 19. Jahrhunderts existierte das in zwei abgelegene russische Gouvernements umstrukturierte Georgien für den Rest der Welt lediglich in Geschichtschroniken sowie in poetischen Bildern der Dichter der russischen Romantik. Die dreijährige staatliche Unabhängigkeit (1918 bis 1921) war zu kurzlebig, um Georgien zu einem festen Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen. Stattdessen wurde das Land zu einer „Unionsrepublik“ der frisch gegründeten UdSSR.
„Sonniges Georgien“
Die erste internationale Anerkennung erhielt Georgien noch als Teil der Sowjetunion, auch wenn diese Anerkennung streng reglementiert war. „Georgien machte einen Schritt über den Kaukasus“ – mit diesem Satz beurteilte der Dichter Irakli Abaschidse, eine Symbolfigur der georgischen Kultur der Sowjetzeit, in seinen Memoiren die kulturellen Errungenschaften der Sowjetrepublik Georgien in den 1930er Jahren. 1937 fanden in Moskau „Tage der georgischen Kunst“ statt, kurz davor wurde in der gesamten Sowjetunion das 750-jährige Jubiläum von Schota Rustaweli begangen. Noch drei Jahre früher, 1934, erhielt das georgische Schrifttum im Rahmen des sowjetischen Schriftstellerkongresses offiziell den ansehnlichen Status der ältesten Literatur aller Sowjetvölker. Die georgische Geschichtswissenschaft der stalinschen Epoche porträtierte die georgische Kultur als einzigen noch lebenden Nachfahren der ältesten europäischen und nahöstlichen Zivilisation. Als Kompensation für die verlorene Staatlichkeit erhielt Georgien für seine Selbstrepräsentierung das riesige Sowjetreich, das ein Sechstel der Erde ausmachte. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs kamen die „sozialistischen Brüderstaaten“ der UdSSR noch hinzu. Auf dieser großen, wenn auch etwas eingeschränkten, Bühne repräsentierten georgische Schriftsteller, Musiker, Tänzer, Theater- und Filmschaffende ihre Heimat. Das „sonnige Georgien“, ein sowjetisches Kultursymbol, besaß magische Anziehungskraft, sie war ein Markenzeichen, das dieses Land und seine kulturellen Schätze mit einem symbolischen Kapital bereicherte. Im Prozess der Selbstdarstellung bediente sich Georgien eines Szenarios, das vom russisch-sowjetischen Mythos des „sonnigen Georgiens“ geprägt war. Im Lauf dieser Mytheninszenierung wurde auch ein Subjekt des „sonnigen Georgiens“ zum Leben erweckt – das Stereotyp des Sowjetgeorgiers: des gastfreundlichen, großzügigen, heiteren, gutgelaunten, poetischen und musikalischen Menschen, stolz auf die „uralte Kultur“ seines Heimatlandes. Dieses Stereotyp wurde mit einem entsprechenden Erscheinungsbild ausgestattet: eine Frau mit einer Lünette - Tschichtikopi – auf dem Kopf und ein Mann in der Tschocha, die durch ihre altertümliche Erscheinung ein exotisches Bild schufen. Seit jener Zeit wurde das ethnographische Erscheinungsbild eines Georgiers oder einer Georgierin zu einer unveränderlichen Form der visuellen Darstellung des Landes. Im gesamten Verbreitungsgebiet der sowjetischen Kultur stellten sowohl Georgien als auch seine Bevölkerung eine ethnographisch strukturierte Exotik dar.
Mit dem Zerfall des Sowjetreichs ging diese riesige geographische Schaubühne verloren und jahrelang blieb den georgischen Künstlern nichts anderes übrig, als ihr Talent und Können auf dem winzigen Territorium zu demonstrieren, das noch zum georgischen Herrschaftsgebiet gehörte. Die georgische Kultur des 20. Jahrhunderts, welche einzig und allein nach dem russisch-sowjetischen Muster geformt worden war – sich entweder durch Widerstand oder durch Gehorsam gegenüber dem Imperium definierte – blieb so gut wie außer Kontext.
Die „ältesten Europäer“
Seit der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit ist das Betreten der großen politischen sowie kulturellen Bühne zu einer neuen, man könnte fast sagen, existenziellen Aufgabe Georgiens geworden, zu einem bestimmenden Faktor der neuen kulturellen Identität. Noch in den frühen 1990er Jahren, parallel zu Bürgerkriegen und wirtschaftlichem Chaos, gab es erste politische Versuche, Georgien auf der internationalen Arena sichtbar zu machen, es dem „euro-atlantischen“ Raum anzunähern. Ausschlaggebend im Prozess der Entstehung der neuen politischen und kulturellen Identität erwies sich der Satz, den 1999 der damalige Parlamentsvorsitzende Surab Schwania im Europarat sprach: „Ich bin Georgier, daher bin ich auch Europäer!“
Seit der „Rosenrevolution“ von 2003 erhielten die Begriffe „Europa“ und „Westen“ im georgischen politischen Diskurs die Bedeutung des „gelobten Landes“. Unter der Führung von Präsident Micheil Saakaschwili, als der Gastlandauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse beschlossen wurde, war die europäische Inszenierung Georgiens zur wichtigsten politischen Priorität geworden. Diese Inszenierung drückte sich einerseits durch die äußerliche Annäherung einiger georgischer Städte (Signagi, Tbilissi, Batumi, Mestia) an Europa, andererseits aber durch Schaffung eines neuen Narrativs über Georgier als „älteste Europäer“. Als „Beweisstücke“ hierzu wurden gleich zwei Denkmäler errichtet: das eine stellte den an den Kaukasus angeketteten Prometheus dar, das andere – Medea, eine kolchische (sprich: georgische) Frau. Die Regierung Saakaschwili modernisierte die Wirtschaft im Eiltempo, führte eine aktive neoliberale Wirtschaftspolitik durch. Die Staatsregulierung des Marktes wurde minimisiert, Steuern gekürzt, ehemalige staatliche Betriebe und Unternehmen wurden schnellstens privatisiert. In einer Situation, wo das Arbeitsgesetz und die Mechanismen der sozialen Absicherung so gut wie nicht vorhanden waren, führten all diese Reformen zur raschen Bereicherung eines kleinen Teils der Bevölkerung und der Verarmung der Mehrheit. In Georgien wurde das neue Subjekt dieser Politik geboren, der sogenannte „europäische Georgier“ mit stabilem Gehalt, liberaler Weltanschauung, nachsichtig gegenüber religiösen und sexuellen Minderheiten – in vielerlei Hinsicht einem typischen Vertreter der europäischen Mittelschicht ähnlich, auch was Kleidung und Lebensstil betrifft.
In diesem Modernisierungsdiskurs wurde Europäertum mit Wohlstand und Fortschritt gleichgesetzt, wobei man Nichturopäertum als sowjetisches Überbleibsel, rückständig und finster qualifizierte. Da aber gerade diese „rückständige“ Mehrheit es war, die sich im Ergebnis der neoliberalen Politik im elendsten Zustand befand und vom „Neuaufbau“ kaum profitierte, ist es nur zu logisch, dass sie sich antieuropäisch und antiliberal beeinflussen ließ. Es ist erwähnenswert, dass diese antieuropäische und antiliberale Stimmung meist aus der georgisch-orthodoxen Kirche sowie den um sie herum agierenden ultranationalistischen Gruppierungen stammte.
„Rückkehr nach Europa“
Die georgische Gegenwartkultur entwickelt sich also vor dem Hintergrund der kaum friedlichen Koexistenz dieser beiden radikal entgegengesetzten Kräfte. Sie ist eine Mischung von sowjetischen kulturellen Stereotypen, orthodox-nationalistischen und westlich-liberalen Mimikrys. Die zeitgenössische georgische Kultur, – nicht einmal die Literatur! – ist nicht mehr an Georgien oder seine Sprache gebunden: ein wesentlicher Teil der georgischen Autoren und Künstler lebt nicht mehr in Georgien, einige von ihnen – wie z.B. die international erfolgreichste Schriftstellerin Nino Haratischwili – sind deutschsprachig. Trotz einer solch komplexen Symbiose, behält Europa und Georgiens (prä)historische Zugehörigkeit zu ihr eine dominante Stellung.
Die „Rückkehr nach Europa“ war auch das Leitmotiv der Selbstdarstellung des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse 2018: Georgien kehrt zu seiner historischen Familie zurück, aus der sie durch Russland ganze zwei Jahrhunderte lang herausgerissen war! Diese neue Schilderung spiegelt nur bedingt historische Tatsachen wieder. Sie ist vielmehr eine literarische Fantasie, denn gerade Russland diente als erste Brücke zwischen Georgien und Europa, über Russland fanden die europäische Kultur sowie der europäische Lebensstil ihren Weg nach Georgien. Diese Darbietung beinhaltet außerdem sowohl den sowjetischen Mythos als auch nationalistisch-messianische Züge und jene Projektion der georgischen progressiven Liberalen, gemäß der Georgien sich als einen Teil des herrschenden Westens auffassen soll. (Dies könnte den nationalen Konsens zur Frage der außenpolitischen Orientierung Georgiens entscheidend beeinflussen.) Es bleibt jedoch unbekannt, welchen Einfluss eine solche Selbstbesinnung auf die innenpolitische Ausrichtung Georgiens haben wird. Seit 2013, als der Anführer des Wahlsiegers von 2012, der Koalition „Georgischer Traum“, Bidsina Iwanischwili die Politik zwar formell verließ, in Wirklichkeit aber zum Alleinherrscher des Landes wurde, steht Georgien für eine in der modernen Welt einzigartige nicht-formelle oligarchische Verwaltung. Was die Wirtschaftspolitik betrifft, schreitet das Land auf dem nur schwer umkehrbaren Weg zur Selbstkolonisierung voran.
So sieht das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse aus, ein Land, dem es gerade in Frankfurt zum ersten Mal gelang, sich von einer von ethnographischen Klischees geprägten Selbstdarstellung zu befreien, was auch als ein erster Schritt in Richtung der Befreiung von der russisch-kolonialen Identität betrachtet werden kann. Einer der Gründe dafür könnte in der Tatsache liegen, dass die absolute Mehrheit der in Frankfurt anwesenden georgischen Autoren und Künstler das neue, liberale und proeuropäische Georgien repräsentierte. Eben diese Gruppe der Künstler und Intellektuellen ist es, die die kulturellen Prozesse in Georgien lenkt und sie auch vertritt. Neben fast zweihundert übersetzten Büchern aus dem Georgischen wurden im Rahmen des vielfältigen Kulturprogramms auch andere georgische Kulturproduktionen vorgestellt: elektronische Musik, visuelle Kunst, Spielfilme und Theaterinszenierungen, also fast alles, was den lebhaften kulturellen Prozess von heute wiedergibt, der sich eher auf die Gegenwart, auf die moderne westliche Kultur orientiert und viel weniger mit traditionalistischen Mythen der Vergangenheit beschäftigt ist. Diese Tendenz zeugt von der Bestrebung seitens der Vertreter der georgischen Kultur, sie – diese Kultur – zu modernisieren, dem europäischen Muster anzunähern, ja, sie mit ihr zu synchronisieren. Eine solche Bestrebung zieht aber an den politischen Prozessen vorüber, in welchen Georgien nach wie vor auf die Osterweiterung Europas wartet.