September 19, 2012
All die langen Jahre, die die Spannungen um Berg-Karabach mittlerweile andauern, hatte man wenigstens behaupten können, dass die Situation relativ vorhersehbar ist. Nur wenige Analytiker, weder in der Region noch darüber hinaus, haben jedoch die Krise vorhersagen können, die sich nun nach der Entscheidung Ungarns entwickelte, Ramil Safarow an Aserbaidschan auszuliefern. Noch ist schwer abzuschätzen, wie schwer die Krise sein wird und welche Folgen zu erwarten sind. Klar ist jedoch, dass sie ein Licht auf die grundsätzlich negative Entwicklung wirft, die der Friedensprozess zu Berg-Karabach in den letzten Jahren genommen hat.
Die wichtigsten Fakten
Am 31. August wurde bekannt, dass der aserbaidschanische Offizier Ramil Safarow an Aserbaidschan ausgeliefert wurde. Dieser hatte bis dahin in einem ungarischen Gefängnis eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen der brutalen Ermordung des armenischen Offiziers Gurgen Markarjan im Jahre 2004 verbüßt. Safarow und Markarjan hatten damals an einer Schulung teilgenommen, die für Offiziere aus den Teilnehmerländern der NATO-Partnerschaft für den Frieden durchgeführt wurde. Ein ungarisches Gericht hatte Safarow nach der Tat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, mit einer Begnadigungssperre von 30 Jahren. Nach seiner Rückkehr nach Aserbaidschan wurde er nicht nur sofort begnadigt und freigelassen, sondern wie ein Held der Nation behandelt. Er wurde zum Major befördert, ihm wurde der Sold für die acht Jahre in ungarischer Haft ausgezahlt, und er wurde mit einer Wohnung belohnt.
Die vorhersehbar heftige Reaktion Armeniens ließ nicht auf sich warten. Sie richtete sich nicht nur gegen Aserbaidschan, sondern auch gegen Ungarn. Armenien fror die diplomatischen Beziehungen zu Ungarn ein, und vor dem ungarischen Konsulat in Jerewan fand eine Demonstration statt, die in geworfenen Tomaten und der Verbrennung der ungarischen Flagge endete. Der nationale Sicherheitsrat wurde zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen und die armenischen Streitkräfte wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Präsident Sersh Sargsjan erklärte am 9. September, dass „[...] die Armenier nicht unterschätzt werden sollten [...] wir wollen keinen Krieg, aber wenn es sein muss, dann werden wir kämpfen und siegen [...] wir haben keine Angst vor Mördern, selbst vor jenen nicht, die von höchster Stelle Schutz genießen“.
In der internationalen Gemeinschaft war die US-Regierung die erste, die reagierte. Am Tag nach der Auslieferung wurden zwei Erklärungen veröffentlicht, eine durch das Außenministerium, die andere im Namen des Präsidenten durch den Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Bemerkenswert bei der Reaktion der USA war – neben der Schnelle und Schärfe, in der die Stellungnahmen erfolgten (mit Ausdrücken wie „tiefe Besorgnis“ und „Enttäuschung“ über das aserbaidschanische Vorgehen sowie mit der Forderung nach einer Erklärung durch Ungarn) – die Prominenz der Stellen, die sie abgaben. Dies stand im Kontrast zu der relativ späten und niedrig angesiedelten Reaktion Russlands, des „strategischen Partners“ Armeniens: Erst am 3. September veröffentlichte das Außenministerium in Moskau eine Stellungnahme, in der es „tiefe Besorgnis“ ausdrückte angesichts der „Maßnahmen Aserbaidschans und Ungarns, die den auf internationaler Ebene, vornehmlich über die Minsker Gruppe der OSZE abgestimmten Bemühungen zur Reduzierung der Spannungen in der Region zuwiderliefen“. Die als schwach wahrgenommene Reaktion Russlands wurde immerhin einigermaßen durch scharf formulierte Kommentare von Nikolai Bordjusha korrigiert, dem Generalsekretär der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), in dem sowohl Armenien als auch Russland Mitglied sind. Dennoch ist das Ausbleiben einer prompten Reaktion der russischen Regierung in der armenischen Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Von Seiten verschiedener internationaler Institutionen folgten ebenfalls kritische Stellungnahmen zum Vorgehen Aserbaidschans und Ungarns, unter anderem durch die EU, den Europarat, die NATO, die VN und durch Frankreich, das neben Russland und den USA das dritte Mitglied der Minsker Gruppe der OSZE ist. Die Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe haben ihre Besorgnis bei Treffen mit dem armenischen und dem aserbaidschanischen Außenminister geäußert. (1)
Die armenische Reaktion
Der von armenischen Regierungsbeamten geäußerte Zorn wurde von großen Teilen der armenischen Gesellschaft geteilt, und zwar über alle politischen Trennlinien hinweg. Rufe nach dezidierten Maßnahmen, etwa nach einem Ausstieg aus dem Minsker Friedensprozess oder einer Anerkennung der Republik Berg-Karabach, erfolgten sowohl von einer Reihe politischer Parteien aus allen Lagern, wie auch aus der Zivilgesellschaft und aus Expertenkreisen. Hierunter waren auch Persönlichkeiten zu finden, die für ihre grundsätzlich gemäßigte und pragmatische Haltung zur Lösung im Karabach-Konflikt bekannt waren.
Wie es bei außen- und sicherheitspolitischen Krisen öfter vorkommt, versuchte die amtierende Regierung und die Regierungspartei, auf der Welle der Wut gegen das Vorgehen Aserbaidschans und Ungarns mit zu reiten. Politiker der regierenden Republikanischen Partei verkündeten, die Safarow-Affäre zeige, dass man interne Differenzen beiseite schieben und eine Sammlung um die Führer Armeniens vollziehen müsse. Repräsentanten des Jugendflügels der Republikanischen Partei waren bei der Organisation der Demonstration vor dem ungarischen Konsulat zu sehen, die mit einer Verbrennung der ungarischen Flagge endete. Präsident Sargsjan, zugleich Vorsitzender der Republikanischen Partei, entschied sich hingegen für eine vorsichtigere Rhetorik. Er rief die Protestierenden auf, mit der Flaggenverbrennung aufzuhören, da dies ein unangemessener Weg sei, seine Position deutlich zu machen. In seiner Stellungnahme vom 9. September, in der er recht starke Töne anschlug (s.o.), warnte er auch vor überzogener Kriegstreiberei. Er verkündete, dass er als jemand, der den Krieg erlebt hat, keinen neuen Krieg wünsche.
Die Oppositionspartei “Sharangutjun“ [„Erbe“] rief das Parlament auf, die Unabhängigkeit von Berg-Karabach anzuerkennen. Wenn es schon in der Vergangenheit wiederholt derartige Aufrufe von „Sharangutjun“ gegeben hatte, so reflektierte der Aufruf diesmal auch die allgemeine Stimmung der armenischen Öffentlichkeit. Eine andere Oppositionspartei, der Armenische Nationalkongress unter der Führung von Armeniens erstem Präsidenten Levon Ter-Petrosjan, gab eine Stellungnahme ab, in der neben der Verurteilung des Vorgehens Aserbaidschans und Ungarns die armenische Regierung scharf kritisiert wird. Die Auslieferung Safarows an Aserbaidschan wurde als großer Fehlschlag der armenischen Außenpolitik bezeichnet, und als Zeichen, dass die amtierende Regierung beim Umgang mit außenpolitischen Herausforderungen extrem überfordert sei.
Virtueller Krieg
Soziale Netzwerke und Blogs, die wohl besser als Barometer der öffentlichen Meinung in Armenien dienen als die staatlich kontrollierten herkömmlichen Medien (insbesondere Radio und Fernsehen), kochten in den Tagen nach Safarows Freilassung vor Wut. Während sich der größte Zorn auf Aserbaidschan richtete, wurde auch das Verhalten der armenischen Regierung hinterfragt. So erschien auf Facebook die Kopie eines Briefes, aus dem hervorging, dass die Regierung in Armenien durch Anführer der armenischen Gemeinschaft in Ungarn vor der bevorstehenden Abschiebung Safarows gewarnt wurde, jedoch nichts unternommen hatte, dies zu verhindern. Die armenisch-aserbaidschanische Konfrontation griff ins Reich des Internet über: Armenischen Hackern gelang es, die offizielle Internetseite des aserbaidschanischen Präsidenten zusammenbrechen zu lassen und über mehrere Stunden durch ein Bild von Gurgen Markarjan, dem Opfer Safarows zu ersetzen. Es entwickelte sich ein virtueller Krieg, bei dem Dutzende von Internetseiten auf beiden Seiten durch Hackerangriffe lahmgelegt wurden.
Der armenische Binnenkontext
Die gegenwärtige Krise erfolgt in einer Phase, in der sich die innenpolitische Landschaft Armeniens recht turbulent gestaltet. Einer der Gründe, warum es sich die derzeitige Regierung nicht leisten kann, schwach dazustehen, liegt in den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Februar 2013. Oberflächlich gesehen hat die regierende Republikanische Partei wenig Anlass zur Sorge, da sie bei den Parlamentswahlen im Mai 2012 ihre Rolle als stärkste politische Kraft im Parlament sichern konnte und die Chancen von Sersh Sargsjan auf eine Wiederwahl für eine zweite Amtszeit gut stehen. Die gegenwärtige Stärke der Republikanischen Partei ist jedoch viel mehr auf den extensiven Einsatz administrativer Ressourcen sowie schwerwiegende taktische Fehler der Opposition als auf echte Popularität zurückzuführen.
Die vergangenen Präsidentschaftswahlen, bei denen Sargsjan auf den Präsidentensessel gelangte, sind von den Anhängern Ter-Petrosjans auf des Heftigste angefochten worden, was zu den schlimmsten Gewaltausbrüchen nach Wahlen führte, die es in Armenien je gegeben hat. Obwohl Ter-Petrosjan seither viele Anhänger verlor und sein Armenischer Nationalkongress es bei den diesjährigen Wahlen nur knapp ins Parlament schaffte, bleibt der ehemalige Präsident ein gefährlicher Opponent. Noch beunruhigender für die Republikanische Partei ist womöglich der Umstand, dass die Partei „Blühendes Armenien“, die seit 2007 ein Teil der Regierungskoalition war und bei den Wahlen 2012 zweitstärkste Kraft wurde, sich in diesem Jahr weigerte, eine Koalition mit der Republikanischen Partei einzugehen. Beobachter gehen allgemein davon aus, dass dies ein Hinweis auf die Ambitionen des zweiten Präsidenten Armeniens Robert Kotscherjan ist, der die Partei 2007 aufgebaut hatte und Spekulationen zu Folge nach einer Möglichkeit sucht, in die aktive Politik zurückzukehren. Ter-Petrosjan wiederum hatte versucht, „Blühendes Armenien“ von Kotscherjan weg ins Lager der Opposition zu locken. Dem hat sich „Blühendes Armenien“ bislang verweigert, und die Partei bezeichnet sich eher als „eine Alternative zur Regierung“ denn als „Opposition“. Die Republikanische Partei versucht, „Blühendes Armenien“ in ihr Lager zu ziehen, was die Furcht der amtierenden Regierung vor einer möglichen Konkurrenz durch „Blühendes Armenien“ zeigt.
Ein weiterer Grund zur Sorge besteht für die Regierenden in Armenien in der Position Russlands. Die Regierung dort hatte Armenien gedrängt, der so genannten „Eurasischen Union“ beizutreten. Die armenische Regierung hat jedoch in dieser Hinsicht wenig Begeisterung gezeigt. Ganz im Gegenteil, die Regierung Sargsjan baute ihre Beziehungen zur Europäischen Union aus und ihre Rhetorik war bislang die einer armenischen „Entscheidung für Europa“. Eine Zeit lang war es möglich gewesen, vertiefte Beziehungen zur EU mit einer strategischen Partnerschaft mit Russland im Sicherheitsbereich zu verbinden. Es scheint allerdings, als erwarte die russische Führung von Armenien nun eine klare Entscheidung. In den armenischen Medien wird zudem spekuliert, dass Robert Kotscherjan mit der Unterstützung der russischen Eliten rechnen könnte, falls er in die aktive Politik zurückkehrt. Auch wenn sich dies nicht verifizieren lässt, so ist es sicherlich ein Grund zur Sorge für Sargsjan und seine Mannschaft. Einige Beobachter haben die späte Reaktion Russlands auf die Safarow-Affäre in diesem Kontext gedeutet, nämlich als eine Warnung an Sargsjan, von seinem „Flirten“ mit dem Westen Abstand zu nehmen, und seine Entschlossenheit für ein Bündnis mit Russland zu erklären. Während dies vielleicht eine Überspitzung sein mag, ist trotzdem klar, dass die Beziehungen Armeniens zum Westen und zu Russland gegenwärtig komplizierter sind, als es auf den ersten Blick scheint.
Implikationen für die Zukunft
Die Safarow-Affäre wirft für die Zukunft viele Fragen auf. Es ist recht unklar, wie es mit den armenisch-ungarischen Beziehungen weitergeht. Trotz des einigermaßen kontroversen Images, das sich die Regierung Orbán auf der internationalen Bühne und besonders in der EU erworben hat, bleibt Ungarn ein wichtiges EU-Mitglied. Als solches wird es in vielen für die armenisch-europäischen Beziehungen wichtigen Fragen mitbestimmen, etwa bei der Verteilung der Finanzförderung oder bei Visaabkommen. Einige Analytiker haben die armenische Entscheidung zur sofortigen Einfrierung der diplomatischen Beziehungen als überhastet bezeichnet. Die ungarische Regierung hat zwar versucht, die Verantwortung für die Auslieferung Safarows von sich zu schieben, doch glauben in Armenien nur wenige, dass es der ungarischen Regierung nicht bewusst war, dass Safarow nach seiner Auslieferung seine Strafe nicht zu Ende verbüßen würde. Schließlich hatte die Glorifizierungskampagne der aserbaidschanischen Regierung, die Safarow als nationalen Held hinstellt, fast unmittelbar nach seiner Tat eingesetzt. Es war also kaum ein anderes Vorgehen der Regierung Alijew zu erwarten gewesen. Dieser Umstand macht es der armenischen Regierung schwer, die Beziehungen zu Ungarn wieder herzustellen, da dies von der armenischen Öffentlichkeit als Zeichen der Schwäche aufgefasst würde.
Die wichtigste Frage ist natürlich, welche Auswirkungen die Safarow-Affäre auf den Karabach-Konflikt haben wird. Der Schaden ist offensichtlich, sollte aber nicht überbewertet werden. Einige Beobachter haben den Schaden beklagt, den die Affäre für den Friedensprozess bedeutet. Dies stimmt bis zu einem gewissen Punkt, doch sollten wir uns auch vergegenwärtigen, dass der Friedensprozess zu Karabach bereits vor der Affäre in einem recht katastrophalen Zustand war.
Während die Safarow-Affäre nun die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erlangt, hatte es nur wenige Monate zuvor eine ähnlich gefährliche Krise gegeben, nachdem einige armenische Soldaten an der Grenze zu Aserbaidschan getötet wurden. Dies hat zu einer Serie von Schusswechseln und kleineren Gefechten an der Kontaktlinie geführt.
Nachdem es die beteiligten Seiten nicht geschafft hatten, ein Abkommen zu den Madrider Prinzipien zu erreichen, machte der Minsk-Prozess keinerlei Fortschritte. Das Scheitern der armenisch-türkischen Protokolle führte dann zu einer Aushöhlung des Friedensprozesses. In den letzten Jahren ist auf höchster offizieller Ebene, in den Stellungnahmen der Führer von Aserbaidschan, Armenien und Berg-Karabach, kriegerische Rhetorik fast zur Norm geworden. Friedensinitiativen, etwa auf NRO-Ebene, werden sowohl von den Regierungen als auch von großen Teilen der Gesellschaften negativ wahrgenommen. Während die armenische Regierung sich bis in die jüngste Zeit vorwiegend tolerant gegenüber solchen Initiativen zeigte und die öffentliche Meinung entweder neutral oder überwiegend positiv war, haben sich die Haltungen in den letzten Jahren allmählich gewandelt, was ein Anzeichen für die zunehmenden Spannungen um Berg-Karabach ist.
Dies ist der Hintergrund, vor dem sich die Safarow-Affäre abspielt. Die Ereignisse haben dem Friedensprozess eindeutig und in erheblichem Maße geschadet, werfen dabei aber eher ein Licht auf die bestehende düstere Lage im Karabach-Konflikt, als dass sie diese erst geschaffen hätten. Man könnte sogar argumentieren, dass die Affäre Safarow, so widerwärtig sie auch sein möge, letztendlich dadurch eine positive Rolle spielen könnte, dass sie die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf das Ausmaß der Spannungen um Berg-Karabach lenkt. Dies würde natürlich voraussetzen, dass die internationale Gemeinschaft die richtigen Lehren aus der Affäre zieht, und dass deren Handlungsbereitschaft mit der starken Sprache der abgegebenen offiziellen Stellungnahmen Schritt hält.
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Mikael Zolyan ist Historiker und politischer Beobachter aus Jerewan. Er war Stipendiat des Förderprogramms des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung
(1) Eine Reihe von Stellungnahmen zur Safarow-Affäre sind zu finden unter:
https://eufoa.org/ep-resolution-deplores-the-decision-by-the-president-of-azerbaijan-to-pardon-ramil-safarov/
Übersicht aller Texte zum Thema:
- Armenien: Verbrechen ohne Strafe? Die Safarow-Affäre, Mikael Zolyan ordnet den Fall aus armenischer Perspektive in den Karabach-Kontext ein
- Aserbaidschan: Ein "Held" unserer Zeit, Sevil Huseynova reflektiert aus persönlicher Sicht über die Botschaft, die mit der Ernennung eines Mörders zum Volkshelden verbunden ist
- Ungarn: Was sagt uns der Fall Safarow über das heutige Ungarn?, Kristóf Szombati beleuchtet die zweifelhaften Hintergründe der ungarischen Entscheidung